Polen:Die polnische Regierung schafft sich einen rechtsfreien Raum

Constitutional Tribunal starts amendment hearing

Schwere Zeiten für polnische Verfassungsrichter, wie Andrzej Rzepliński: Es scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass ein Verfassungsgerichtspräsident verhaftet wird, weil er seine Pflicht erfüllt.

(Foto: dpa)

Das Vorgehen der polnischen Regierung gegen das Verfassungsgericht bedroht den Zusammenhalt der EU. Sie müsste scharf reagieren - wird es aber vermutlich nicht tun.

Kommentar von Florian Hassel

Das Urteil von Warschau ist eindeutig. Das polnische Verfassungsgericht hat die Gesetzesänderungen für verfassungswidrig erklärt, die seine Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit einschränken und die Regierung einer wirksamen Kontrolle entziehen sollen. Voraussichtlich am Freitag wird auch die Venedig-Kommission, das auf Verfassungsfragen spezialisierte Gremium des Europarats, Polen auffordern, die Änderungen zurückzunehmen. Dies gilt als gewiss, seit Ende Februar ein Entwurf des Beschlusses bekannt wurde. Darin erklärten sechs Verfassungsexperten das Vorgehen der polnischen Regierung gegen das Verfassungsgericht auch nach internationalen Maßstäben für rechtswidrig.

Doch Polens eigentlicher Herrscher Jarosław Kaczyński und seine Regierung wollen das Urteil ihres Verfassungsgerichts wegen angeblich fehlender Rechtskraft nicht veröffentlichen. Sie möchten es ebenso ignorieren wie ein Urteil vom Dezember, demzufolge Polens Präsident drei von der Vorgängerregierung gewählte Verfassungsrichter vereidigen muss.

Die höchsten Richter können sich nun zwar weiter treffen und entscheiden. Unter einer Regierung, die ihre Urteile missachtet, ist die Gewaltenteilung aber aufgehoben, ist die Herrschaft des Rechts abgeschafft. Die Regierung eines EU-Mitglieds, des wichtigsten Landes in Zentraleuropa, stellt sich bewusst außerhalb des europäischen Rechtsraums.

Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wollen, wie jede auf autoritäre Herrschaft zielende Macht, ein zentrales Prinzip des modernen Rechtsstaates faktisch abschaffen: dass eine Regierung und ihre Mehrheit im Parlament der Kontrolle durch unabhängige Richter unterworfen sind.

Dieser Vorwurf sei falsch, behauptet Stanisław Piotrowicz, ein Ex-Staatsanwalt aus kommunistischer Zeit, der im Parlament als Hauptautor rechtswidriger Gesetze und Beschlüsse den Angriff auf das Verfassungsgericht leitete. Tatsächlich sei "der Souverän das Volk". Es habe dem Parlament "die Bildung des Rechts anvertraut". Das Verfassungsgericht besitze kein solches Mandat. Es könne sich nicht über das Parlament stellen.

Disziplinarmaßnahmen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung

Die nun für verfassungswidrig erklärten Gesetzesänderungen, die Kaczyński und seine Gefolgsleute gleichwohl anwenden wollen, sehen auch Disziplinarmaßnahmen gegen Verfassungsrichter vor - bis hin zur Absetzung durch das Parlament und strafrechtlicher Verfolgung. Schon hat der Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt ist, angedeutet, er werde gegen Verfassungsrichter vorgehen. Im aktuellen Warschauer Klima scheint nicht mehr ausgeschlossen zu sein, dass ein Verfassungsgerichtspräsident verhaftet wird, weil er seine Pflicht erfüllt.

Wie antworten die Polen, wie antwortet Europa auf die Ausschaltung des Verfassungsgerichts? Die Bürger haben zu Zehntausenden gegen die Manöver der PiS protestiert. Doch um eine kritische Masse zu erreichen, müssten allein in Warschau Hunderttausende demonstrieren. Kaczyński zeigt keinerlei Bereitschaft zum Nachgeben. Vor der Gerichtssitzung griff er das Komitee zur Verteidigung der Demokratie, einen Organisator von Protesten, als angeblichen Feind seines Landes an, der zusammen mit ungenannten ausländischen Kräften Polen in "eine Art Kolonie" verwandeln wolle.

Die Erfindung ausländischer Feinde soll, gekoppelt mit sozialen Wohltaten, zumindest die Anhänger der PiS bei der Stange halten. Polens Demokraten stehen vor einem langen Weg von Protest, Aufklärung und Reform in den eigenen Reihen, wenn sie das Blatt wenden wollen.

Die EU-Kommission müsste Sanktionen gegen Warschau verhängen

Was kann Europa tun? Die bevorstehende Aufforderung der Venedig-Kommission, zum Rechtsstaat zurückzukehren, ist nur eine Empfehlung - freilich mit symbolischer Kraft. Selbst die US-Regierung unterstützt Empfehlungen der Kommission und hat Warschau ermahnt, ihnen zu folgen. Trotzdem scheint Kaczyński bei der Demontage des Verfassungsgerichts zum Durchmarsch gegen alle entschlossen zu sein. Bleibt es dabei, müsste die EU-Kommission bald Sanktionen gegen Warschau verhängen, und mittelfristig die Fördermilliarden kürzen.

Nur: In Zeiten, in denen Brüssel die Türkei wegen ihrer zentralen Rolle in der Flüchtlingsfrage umwirbt, ist ein entschlossenes Vorgehen gegen demokratische Sünder innerhalb der EU unwahrscheinlich. Zudem könnten Kaczyńskis Alliierte - wie Ungarns selbstherrlich regierender Premier Viktor Orbán - ihr Veto einlegen. Das in seiner Radikalität beispiellose Vorgehen der polnischen Regierung bedroht den Zusammenhalt der EU als Vereinigung von Demokratien. Doch, wie in der Flüchtlingskrise, sind effektive Lösungen bisher nicht in Sicht.

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