Polen:Die Euphorie verfliegt, die Hoffnung bleibt

Warschau weiß, dass es vor einer Aufnahme noch große Hindernisse beseitigen muss, doch die jüngsten Noten aus Brüssel bestärken die Reformer.

Thomas Urban

(SZ vom 2.12.2000) - Seit kurzem ist Leszek Frydryszak ganz nah am großen Geld. "Ich arbeite für Gudzowaty", sagt er kurz. Aleksander Gudzowaty nimmt in der Liste der 50 reichsten Polen, aufgestellt alljährlich vom Politmagazin Wprost, den ersten Platz ein.

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Polnische Flagge

(Foto: Archiv)

Er ist Vorstandsvorsitzender und Großaktionär mehrerer Firmen, die im Osthandel engagiert sind, die sich vor allem mit dem Import und Transit russischen Gases befassen. Er ist somit Partner des russischen Erdgasmonopolisten Gazprom, aber auch mehrerer Stromkonzerne in der EU.

Wie viele andere Funktionäre des Außenhandelsministeriums war der heute 62-jährige Gudzowaty, der die Öffentlichkeit meidet, genau an der richtigen Stelle, als vor einem Jahrzehnt die Privatisierung der Staatskombinate begann.

Er gehört somit in die Reihe der "roten Direktoren", die früher der kommunistischen Arbeiterpartei verbunden waren und heute als große Gewinner des jungen polnischen Kapitalismus für die Integration ihres Landes in die EU eintreten.

Vor zehn Jahren hätte sich Frydryszak nie träumen lassen, dass er sich mit Kostenvoranschlägen, Gewinnspannen und Gewerbesteuer befassen würde. Denn er war damals Kunstmaler.

"Ich bin es auch heute noch", entrüstet er sich auf die Frage, ob er die Kunst für das Business verraten habe. Aber: "Alles muss ruhen, schließlich muss ich meine Familie ernähren!" Der 40-Jährige ist verheiratet, hat zwei kleine Töchter.

Dabei muss er seine künstlerischen Ideen keineswegs ersticken: Er befasst sich nämlich mit "design", wie man auch auf neupolnisch sagt. Seit einigen Wochen arbeitet er in einer der "Residenzen" Gudzowatys im Waldgürtel südöstlich von Warschau, wo früher Parteifunktionäre wohnten und heute Hunderte Villen Neureicher stehen.

Als Manager und Designer ist er zum Subunternehmer geworden, verschafft Malern, Bildhauern, Kunstglasern und -schmieden, die sonst darben müssten, ein Einkommen.

Mercedes statt Wolga

Das Geschäft läuft gut. Frydryszak hat einen kleinen Bauernhof gekauft, besitzt Pferde. Fuhr er vor zehn Jahren, als Gudzowaty sofort von Wolga auf Mercedes umsteigen konnte, noch einen Fiat-Polski, so sitzt er nun hinterm Steuer eines großen japanischen Geländewagens.

Und er denkt an Expansion - zum Beispiel nach Deutschland. "Die Deutschen wissen die polnischen Handwerker sehr zu schätzen. " Deshalb hofft er auf einen raschen EU-Beitritt seines Landes.

Nur wird wohl so schnell nichts daraus. Zwar wiederholt die gesamte polnische Führung - der postkommunistische Präsident Aleksander Kwasniewski ebenso wie der konservative Premier Jerzy Buzek - gebetsmühlenartig, dass das Land am 1. Januar 2003 zum Beitritt bereit sein werde.

Doch hält man selbst diesen Termin wohl längst für unrealistisch. Dies deutete kein geringerer als Jan Kulakowski an, der polnische Verhandlungsführer. Kulakowski sagte kürzlich der Financial Times: "Wir sind zu Kompromissen bereit, doch nicht in Grundsatzfragen.

Sollten unsere wichtigsten Verhandlungspunkte auf dem Spiel stehen, müsste gegebenenfalls das Beitrittsdatum 2003 geopfert werden. " Zwar hat er wenig später diese Aussage korrigiert, doch offenbarte seine Äußerung die Verunsicherung in Warschau.

Kulakowski ist ein freundlicher älterer Herr, der auf den ersten Blick wie ein zerstreuter Professor wirkt. Doch auf den zweiten Blick zeigt er sich als sehr präzis argumentierender Diplomat, der wie ein Computer alle wichtigen Daten, Zahlen und Fakten im Kopf hat.

Er hat einen der schwierigsten Posten im Lande: Zum einen hat die Europhorie der Polen stark nachgelassen. Nur noch rund 50 Prozent möchten unbedingt in die EU, fast 30 Prozent sind entschieden dagegen. Zum anderen hat Kulakowski ein schwieriges Erbe übernommen.

Sein Vorgänger Ryszard Czarnecki war als einer der Führer der Christlich-Nationalen Vereinigung (ZChN) eigentlich urspünglich gegen einen EU-Beitritt Polens gewesen. Denn für die Christnationalen bedeutet der Westen Permissivität und Pornographie. Doch Czarnecki lernte dazu, erkannte, dass Wohlstand für Polen nur innerhalb der EU erreicht werden kann.

Doch kam es in seiner Amtszeit dazu, dass Polen Anträge auf Geld aus dem Brüssler Phare-Programm zur Umstrukturierung der Volkswirtschaft zu spät oder nur fragmentarisch stellte.

Das Land büßte dadurch etwa 30 Millionen Euro ein, Czarnecki musste Kulakowski Platz machen, der bis dahin polnischer Botschafter bei der EU gewesen war. Und dieser muss nun sein Vorgehen nicht nur mit der Kanzlei des Premierministers koordinieren, sondern auch mit dem Europaminister Jacek Saryusz-Wolski, der ebenfalls oft nach Brüssel reist - was in der EU schon für Verwirrung gesorgt hat.

Indes müssen Kulakowski und Saryusz-Wolski damit rechnen, dass sie nur noch wenige Monate im Amt bleiben - ebenso wie auch Buzek. Denn seitdem im Frühjahr die liberale Freiheitsunion, geführt von Leszek Balcerowicz, dem "Vater des polnischen Wirtschaftswunders", aus der Regierung ausgestiegen ist, führt Buzek ein Minderheitskabinett.

Wenn der neue Haushalt, über den in diesen Tagen das Parlament debattiert, keine Mehrheit findet, sind vorgezogene Neuwahlen im Frühjahr unausweichlich. Nach den Umfragen dürfte dabei das postkommunistische Linksbündnis (SLD), das als Regierungspartei 1993 bis 1997 wichtige Reformen verschleppt hat, einen Erdrutschsieg erringen.

Immerhin gab es für Buzek und Kulakowski, aber auch für Gudzowaty und Frydryszak, vor drei Wochen einen Lichtblick: Im jährlichen Fortschrittsbericht der EU-Kommission über die Vorbereitungen der Kandidatenländer bekam Polen gute Noten, zumindest die polnische Wirtschaft: Für die nächsten Jahre wird weiterhin ein Wachstum von rund fünf Prozent vorausgesagt.

Zudem soll sich die Inflationsrate von derzeit gut zehn Prozent halbieren. Allerdings liegt die Arbeitslosigkeit bei mehr als 16 Prozent; die EU-Experten nehmen einen jährlichen Rückgang von gerade einem halben Prozent an.

Die meisten polnischen Kommentatoren freuten sich über den EU-Bericht, ungeachtet der Tatsache, dass erst elf der 29 Sachkapitel, über die Brüssel und Warschau verhandeln, abgeschlossen sind.

Zu den offenen gehören so zentrale Bereiche wie der Bergbau, die Landwirtschaft, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, der Erwerb von Immobilien, der Umweltschutz, der Zoll und schließlich die Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union, also der polnischen Ostgrenze.

Kulakowski sagt dazu fast gleichmütig: "Als das größte und bevölkerungsstärkste Beitrittsland haben wir die meisten Probleme, aber wir müssen auch die größten Anpassungskosten tragen. " Bauernorganisationen haben dagegen bereits mit Straßenblockaden protestiert, Bergleute demonstrieren in diesen Tagen.

Weiter hinten in dem EU-Bericht sind dann die schlechteren Noten aufgeführt: Korruption in den teilweise uneffektiv arbeitenden polnischen Behörden, vor allem eine überforderte Justiz. Der Jungunternehmer Frydryszak kann von all dem ein Lied singen. "Wer in einem zivilen Streitfall auf die Gerichte setzt, hat schon fast verloren!" Polen wurde bereits mehrmals vom Europäischen Gerichtshof in Straßburg gerügt, weil viele Verfahren über Gebühr lange dauern.

Auch ist noch kein einziges Verfahren wegen der großen Finanzskandale Anfang der neunziger Jahre zum Abschluss gekommen. Frydryszak meint: "Wir müssen in die EU; denn nur dann haben wir die Chance, dass sich dies alles zum Besseren wendet!"

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