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Polen:Der Chef macht sich zum Vize

Jarosław Kaczyński, der mächtigste Politiker des Landes, bevorzugte bislang das Regieren aus seiner Parteizentrale heraus. Jetzt rückt er ins Kabinett - aus taktischen Gründen.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war ein ungewohnter Anblick, als Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Mitte dieser Woche sein umgebildetes Kabinett vorstellte: Neben einer Reihe bekannter Minister stand an Morawieckis Seite auch ein neuer stellvertretender Ministerpräsident: Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und seit dem Herbst 2015 faktisch Polens Regierungschef.

Der formelle Eintritt Kaczyńskis, der 2005 bis 2007 schon einmal Regierungschef war, doch seit 2015 das Regieren aus seiner Parteizentrale bevorzugte, folgt einer wochenlangen Krise. Nur mit zwei Koalitionspartnern - der Partei "Verständigung" von Jarosław Gowin und dem "Solidarischen Polen" des radikalen Justizminister-Generalstaatsanwalts Zbigniew Ziobro - hat die PiS eine knappe Mehrheit im Parlament. Doch nachdem die Koalition im Herbst 2019 mit einer gemeinsamen Wahlliste bestätigt worden war, krachte es zwischen den Partnern.

Erst verweigerte Gowin im April die Zustimmung zur Wahl des Präsidenten auf dem Höhepunkt der Corona-Krise. Dann verweigerte Ziobro mit seinen Gefolgsleuten im September die Zustimmung zu einem Gesetz, das polnische Amtsträger für alle Handlungen während der Corona-Krise straffrei stellen soll.

Das Gesetz ist von zentraler Bedeutung für Regierungschef Morawiecki: Dem kürzlichen Urteil eines Warschauer Verwaltungsgerichts zufolge verstieß er bei der Organisation der ursprünglich für Mai angesetzten Präsidentenwahl gegen geltendes Recht. Ziobro hätte sich offenbar gern eine Möglichkeit offengehalten, um gegen Morawiecki - seinen Hauptkonkurrenten um die politische Nachfolge Kaczyńskis - einmal Ermittlungen oder Anklagen vorbereiten zu können.

Kaczyński erhält die Aufsicht über das Verteidigungs- und das Innenministerium

Kurzfristig sah es so aus, als würde Ziobro als Justizminister und Generalstaatsanwalt entlassen, würde Kaczyński mit einer Minderheitsregierung weitermachen. Doch in den vergangenen Tagen rauften sich die zerstrittenen Partner zusammen. Sie einigten sich nicht nur auf ein geheim gehaltenes Regierungsprogramm, sondern auch auf die Posten des neuen Kabinetts.

Dort wird Kaczyński als Vizeministerpräsident nominell die Aufsicht über das Verteidigungs- und das Innenministerium ebenso führen wie über Ziobro. Tatsächlich aber hat er nicht nur die echte Macht in der Regierung und faktisch auch das entscheidende Wort am Kabinettstisch, sondern er will offenbar auch die schwelenden Konflikte zwischen den Konkurrenten um seine Nachfolge schon im Entstehen beseitigen.

Ministerpräsident Morawiecki rechtfertigte die Kabinettsumbildung und den Eintritt Kaczyńskis als Vizepremier öffentlich mit effektiverem Regieren und angeblich besseren Handlungsmöglichkeiten in der Corona-Krise. Dafür wäre es etwa sinnvoll gewesen, einen Vizeministerpräsidenten mit der Koordinierung aller entsprechenden Gesetze und Erlasse zu betrauen, statt, wie im Fall des PiS-Chefs, mit der eigentlich überflüssigen Aufsicht über den Sicherheitsbereich. "Wenn Kaczyński zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder in die Regierung eintritt, dann nicht, um die Probleme Polens zu lösen, sondern die der PiS", analysierte der Infodienst Onet.

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SZ vom 02.10.2020
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