Babygeschrei dringt durch die schmale Straße. Dann Sprechchöre, verzerrt durch Megafone, Gebete. Das Weinen des Babys kommt vom Band. Endlos. Eine Gruppe Demonstranten hat sich vor einem Ladenlokal versammelt. Die Schaufenster verdecken sie mit ihren Transparenten. Darauf sind blutige, zerfetzte Föten zu sehen. Auf einigen steht geschrieben: „Abtreibung - den Polinnen zur Verfügung gestellt von Adolf Hitler“, dazu ein Bild des Diktators. Auf einem selbst gemalten Schild steht: „Kindermörder - Die Hölle wartet auf euch.“ Die recht kleine, aber lautstarke Gruppe von Abtreibungsgegnern, etwa 20 bis 30 Leute, wird von fast genauso vielen Polizisten umstellt.
Eigentlich geht es samstags in dieser Straße im Zentrum Warschaus ruhig zu. Hier liegt der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, und auch Politiker haben mal Wochenende. Doch schräg gegenüber vom Sejm hat an diesem sonnigen Internationalen Frauentag Polens erste Anlaufstelle für Frauen eröffnet, die eine Schwangerschaft abbrechen möchten. Es ist nicht nur eine Beratungsstelle. Frauen und Mädchen finden hier geschützte Räume, um unter Beistand eine Abtreibung mit Medikamenten vorzunehmen.
Die Regierung Tusk versprach eine Legalisierung, hat aber inzwischen alle Bemühungen eingestellt
Dabei hat Polen noch immer – nach Malta – das zweitstrengste Abtreibungsgesetz in der EU. Wer bei Abtreibungen Hilfe leistet, kann ins Gefängnis kommen. Erlaubt sind Abtreibungen nur nach Vergewaltigungen oder Inzest, wozu es eine staatsanwaltliche Verfügung braucht. Oder wenn das Leben der Frau in Gefahr ist. Bis 2020 galt eine Schädigung des Fötus noch als Abtreibungsgrund, dann ließ die rechtsnationalistische PiS-Partei diesen aus dem Gesetz streichen.
Ministerpräsident Donald Tusk und seine konservative Partei Bürgerplattform (PO) versprachen im Wahlkampf 2023, Abtreibungen zu legalisieren. Doch 15 Monate nach Antritt von Tusks Viererkoalition ist nichts passiert. Das Vorhaben scheiterte nicht einmal am PiS-nahen Präsidenten Andrzej Duda, der als Gegner der Tusk-Regierung fast alle deren Gesetzesinitiativen abweist. Sondern an Hardlinern unter Tusks Koalitionspartnern. Seither hat die Regierung alle Bemühungen eingestellt.

Zumindest an diesem feierlichen Eröffnungstag ist es nicht leicht, die Ambulanz zu betreten. Die Abtreibungsgegner und Polizisten drängen sich direkt vor dem Eingang. Und das über Stunden. Auf dem Gehweg haben die Demonstranten rote Farbe verschüttet, die sich an alle Schuhsohlen klebt. Auf diejenigen, die hinein wollen, richten sie ihr Megafon. Den Frauen drinnen hinter der Glastür muss man mit Händen, Füßen oder Ausweisen deutlich machen, dass man in Frieden kommt. Anders kann man sich in dem Lärm nicht verständlich machen.
„Wir tun hier, was dieses Land nicht für uns tut“
„Willkommen in Polen“, schreit Kinga Jelińska einem zur Begrüßung zu. Der kleine Raum ist gesteckt voll, der Lärm von draußen, das Babygebrüll, die Sprechchöre überlagern drinnen jedes Gespräch. Draußen stehen hauptsächlich Männer und wenige Frauen. Drinnen ist das Verhältnis umgekehrt. Hier wird gelacht, aber auch geweint: Freude, Anspannung oder alles zusammen. Protest hatten sie erwartet, sagt Kinga Jelińska, vielleicht nicht ganz so laut und massiv. Sie ist eine von drei Gründerinnen der Organisation Aborcyjny Dream Team, kurz ADT. Seit 2016 beraten sie, klären auf und sagen Frauen, wo sie sicher im Ausland Abtreibungsmedikamente bestellen können. Bisher waren sie nur online oder telefonisch zu erreichen. Nun haben sie in diesem ehemaligen Ladenlokal buchstäblich Stellung bezogen.
Und wie ein bunter Lifestyle-Laden sieht das auf den ersten Blick auch aus. Zur Unterstützung der Organisation kann man T-Shirts, Sweatshirts, Socken kaufen, auf denen Sprüche stehen wie: „Abtreibung ist normal“, dazu Telefonnummern für Hilfesuchende.

„Natürlich soll das eine Ansage an alle Politiker sein“, sagt Jelińska. Die müssten hier auf dem Weg zu Parlamentssitzungen vorbei. „Wir bekommen weniger Spenden aus dem Ausland, seitdem Donald Tusk gewählt wurde“, sagt sie. „Weil alle denken, dass mit ihm alles besser wurde in Polen. Aber für uns hat er überhaupt nichts getan.“
Der Anwalt nennt die Eröffnung des Zentrums „sehr mutig“
Zur selben Zeit wirbt Tusks Präsidentschaftskandidat Rafał Trzaskowski – im Mai wird gewählt – im schlesischen Bielsko-Biała um die Stimmen der Frauen. Die hohe Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl im Oktober 2023 war auch der Mobilisierung der Frauen zu verdanken, diese versprachen sich von einer Regierung unter Tusk nicht nur die legale Abtreibung, sondern überhaupt wieder Respekt und Aufmerksamkeit. „Ich stehe immer an eurer Seite“, sagt Trzaskowski in Bielsko-Biała.
Im belagerten Laden des Aborcyjny Dream Team steht er jedenfalls nicht. „Wir tun hier, was dieses Land nicht für uns tut“, sagt Kinga Jelińska.
Angesichts der Rechtslage bezeichnet der Anwalt des Aborcyjny Dream Teams die Eröffnung dieser Abtreibungsambulanz als „sehr mutig“. Der kräftige Mann in Jeans und zerknautschtem Sakko, grauer Bürstenschnitt, steht hinten im Hof und beobachtet von dort die Abtreibungsgegner und Polizisten auf der Straße. Er kann nur im Nachhinein gegen diese Belästigung und die Untätigkeit der Polizisten vorgehen. Doch es kann deutlich kniffliger werden. „Es wäre schon gut, wenn sie in dem Laden keine Abtreibungspillen aufbewahren würden“, sagt er und wiegt den Kopf.
Nach polnischem Recht macht sich die Frau, die selbst an sich eine Abtreibung vornimmt – etwa mit Tabletten – nicht strafbar. Derjenige, der ihr das Medikament gibt, schon. Deshalb sollen die Frauen und Mädchen ihre Pillen selbst mitbringen, wenn sie in die Ambulanz kommen. Zur Abtreibung mit Medikamenten raten Jelińska und das Team bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. „Wir halten uns an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation“, sagt sie.
Mitstreiterin Justyna Wydrzyńska ist bereits einmal verurteilt worden, weil sie solche Tabletten weitergegeben hat. Kürzlich hob ein Berufungsgericht das Urteil auf – der Prozess beginnt von vorn. „Uns hat das sehr viel Aufmerksamkeit gebracht“, sagt Kinga Jelińska trotzig. „Wir konnten seitdem noch mehr Frauen und Mädchen helfen.“