Seit dem 24. Februar 2022, an dem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, ist die Welt eine andere. Die Sicherheit des Friedens in Europa, dessen Länder sich auf Grenzen geeinigt hatten, endete abrupt mit Putins Befehl, die Ukraine zu überfallen. Ein Bruch in Europa. Ein Bruch auch in Deutschland: Diplomatische Beziehungen, das Verhältnis zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und die Gasversorgung des Landes mussten neu sortiert werden.
Nun zum traurigen Jahrestag des Einmarsches blickt Carolin Emcke in dieser Folge von "In aller Ruhe" auf ein Jahr Angriffskrieg zurück. Gemeinsam mit Osteuropa-Historiker Karl Schlögel geht es um den "Putinismus" in Russland und auch darum, was es für Menschen im und außerhalb des Kriegsgebiets bedeutet, dem Krieg ausgesetzt zu sein.
Karl Schlögel, geboren 1948 im Unterallgäu, reiste in den 1960er-Jahren das erste Mal in die damalige Sowjetunion. Seitdem beschäftigt er sich mit dem Gebiet, war ungezählte Male dort und lehrte an der Uni Konstanz "Osteuropäische Geschichte". Zudem ist er Autor mehrerer Bücher, unter anderem schrieb er "Das sowjetische Jahrhundert", das mit dem Leipziger Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde. Er gilt als einer der besten Kenner Russlands.
Doch auch Schlögel war von dem russischen Einmarsch überrascht: "Ich konnte es nicht glauben." Ihm war allerdings schnell klar, "dass ein Zustand zu Ende gegangen ist und etwas ganz anderes angefangen hat." Auch weil er eine Veränderung bei den Reden des russischen Präsidenten Wladimir Putin wahrgenommen hat: "Diese ungezügelte, böse Boshaftigkeit und Bösartigkeit, die aus ihm herausgebrochen ist", sei so offen auf einer Bühne neu gewesen.
"Die Erfahrung ist, dass man, oder, dass ich keine Sprache hatte für das, was passiert."
Auch die Bilder von der Front, aus Mariupol, die von dem russischen Vernichtungswillen zeugen, haben Schlögel sehr beschäftigt. Er war schon oft in Mariupol, einem "Zufluchtsort für alle, die es im besetzten Donbass nicht aushielten", wie er sagt. Unvorstellbar, was dort geschah. Denn selbst das, was den fernen Beobachter von den Schrecken der Schlacht erreicht hat, erlebte Schlögel als "Sprengung des Wahrnehmungshorizonts". Weiter: "Die Erfahrung ist, dass man, oder, dass ich keine Sprache hatte für das, was passiert."
Wie Karl Schlögel und Carolin Emcke trotzdem versuchen, Worte zu finden, hören Sie in der ersten Folge von "In aller Ruhe".
Empfehlung von Karl Schlögel
Karl Schlögel empfiehlt "Stalingrad" von Wassili Grossmann. Eine Familiengeschichte und ein Anti-Kriegsroman, der in Stalingrad im April 1941 beginnt, erschienen bei Ullstein/Classen. Der Krieg gegen die Deutschen scheint weit entfernt. Bis die Rote Armee beginnt, ihre Lager dort aufzuschlagen. Als die Bomben auf Mariupol fielen, habe er oft an dieses Buch denken müssen, sagt Schlögel. "Es ist eines der großartigsten Bücher des Kampfes um Würde und Selbstbehauptung ."
Redaktionelle Betreuung dieser Folge: Sabrina Höbel, Johannes Korsche, Vitus-Vinzent Leitgeb
Produktion und Sounddesign: Justin Patchett
Text zur Folge: Johannes Korsche.