Neuer Vertriebenen-Gedenktag:Die Mär von der Versöhnungs-Charta

Der Regierungsplan eines Gedenktags für die Vertriebenen beruft sich auf ein fragwürdiges historisches Vorbild: Die "Charta" der Vertriebenen. Schon ein Blick in die Liste der damaligen Unterzeichner sollte zur Vorsicht mahnen.

Raphael Gross

Professor Raphael Gross, geboren 1966, ist Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main und des Jüdischen Museums Frankfurt.

Siedlung für heimatvertriebene Schönbacher Geigenbauer, 1949

Weil sie die Charta der Heimatvertriebenen als "wesentlichen Meilenstein auf dem Weg zur Integration und Aussöhnung" sieht, fordert die Regierungskoalition einen Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung.

(Foto: SV-Bilderdienst)

Man muss wohl schon mindestens eine Woche mit Grippe zu Hause sein, bis man sich im Netz in die feinen Verästelungen der parlamentarischen Bundesdrucksachen verirrt. Irgendwo findet man Unterlagen der für den gestrigen Donnerstag, den 10. Februar 2011 anberaumten Diskussion im Deutschen Bundestag über einen neu zu schaffenden Vertriebenen-Gedenktag. Obwohl ich seit über einem Jahr im wissenschaftlichen Beraterkreis für die Stiftung "Flucht - Vertreibung - Versöhnung" mitarbeite, habe ich darüber erst zufällig im Netz etwas erfahren. Dabei will dieser Antrag sehr direkt in die Arbeit der Stiftung eingreifen - etwa wenn hier plötzlich eine Art Gedenkstätte für die Besucher der zu schaffenden Dauerausstellung gefordert wird, von der ich bisher zumindest noch nie etwas gehört habe.

Der Antrag zeugt von einem Umgang mit dem Thema der Vertreibung, der den Gedanken der "Versöhnung", wie immer man diesen aufgeladenen Begriff nun auch verstehen will, geschwind unter den Tisch fallen lässt. Sonst kann man sich nicht erklären, warum nun ausgerechnet der Jahrestag der Unterzeichnung der überaus problematischen "Charta" der Vertriebenen vom 5. August 1950 dazu benutzt werden sollte, um sie mit einem Gedenktag zu veredeln. Diese "Charta" ist ein deutliches Abbild des schwierigen Umgangs mit der NS-Zeit in den frühen fünfziger Jahren und kein leicht zu feierndes Dokument.

Ein Blick in die Liste der damaligen Unterzeichner der "Charta" sollte eigentlich schon zur größten Vorsicht mahnen: Wir finden darunter Menschen, die wenige Jahre vorher etwa aktiv "Ostumsiedlung" betrieben haben, einen Schulungsleiter der NSDAP; zwei SS-Obersturmbannführer, et cetera.

Wen wundert es da, dass in der "Charta" weder der Mord an den europäischen Juden, an den "Zigeunern", wie man die Sinti und Roma damals noch nannte, an zahlreichen Polen und anderen "Untermenschen" als Hintergrund der Vertreibung auch nur ein Wort der Erwähnung fand? Kein Wort natürlich auch über den deutschen Generalplan Ost, der die Vertreibung und teilweise die Ermordung von weit über 30 Millionen "slawischer Untermenschen" nach dem erhofften "Endsieg" wollte.

Wenn wir den Nationalsozialismus untersuchen, haben wir es nicht nur mit einem schrecklichen Geschehen, sondern auch mit einer fürchterlichen Mentalität und Moral zu tun. Diese NS-Moral und Mentalität ist 1945 nicht einfach spurlos verschwunden. Sie bedurfte erst eines langsamen Veränderungsprozesses - und Echos davon sind bis heute vernehmbar. Von diesem langsamen Prozess zeugt eben auch diese "Charta" - trotz mancherlei christlich eingefärbter Stellen und einem pathetischen Grundtenor: "Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten." Ausgerechnet in diesem "Geiste der Charta", so wollen es die beiden Regierungsfraktionen explizit in ihrem Antrag, soll sich nun die Bundesregierung für ein geeintes Europa einsetzen.

Was hat die deutsche Politik dazu veranlasst, sich heute auf den Geist dieses Manifests zu beziehen? Ist der Druck, sich auf dem rechten Rand der Gesellschaft zu profilieren, so groß? Immer noch Angst vor Erika Steinbach, die noch vor kurzem dem polnischen Historiker und Deutschlandbeauftragten, Wladyslaw Bartoszewski, beim Frühstücks-TV kurzerhand einen schlechten Charakter anredete?

Als ich neulich am 27. Januar auf einer zentralen Gedenkveranstaltung in Hessen sprechen durfte, wurde ich von Seiten der Veranstalter ganz freundlich gefragt, was man denn dazu bitte eigentlich noch Neues sagen könne? Vielleicht reicht es tatsächlich, Altbekanntes in Erinnerung zu rufen, da die historische Bildung und Urteilskraft trotz alledem selbst bei Parlamentariern geringer scheint, als man es erwarten würde.

Der junge polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz, ebenfalls im wissenschaftlichen Beirat der Vertriebenenstiftung, hat mich darauf hingewiesen, dass man in Polen vor allem die zentrale Formulierung der "Charta" von 1950 - nämlich den nur scheinbar großzügigen "Verzicht auf Rache und Vergeltung" - als puren Hohn empfinde. Auf einen Verzicht der Deutschen auf Rache und Vergeltung gegenüber den Polen und Tschechen habe dort 1950 wirklich niemand reagiert. Hatte man in Deutschland 1950 etwa gar schon vergessen, wer wenige Jahre davor mit dem ganz großen Morden und der Vertreibung ganzer Völker begonnen hatte?

Jedenfalls hatte man hier erfolgreich die Beteiligung am Nationalsozialismus und Völkermord in solcher Weise verdrängt, dass plötzlich die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkrieges erschienen. Insofern ist der Rückgriff auf diese "Charta" und dieses Datum auch genau konträr zu dem Gesetz der neuen Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Dieses Gesetz verlangt im Gegenteil nach einer Auseinandersetzung mit der Vertreibung "im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen".

Der interessanteste Satz in dem Antrag ist ein Zitat des Historikers Karl Schlögel: "Wie spricht man über ein Großverbrechen im Schatten eines anderen, noch größeren Verbrechens?" Die Antwort ist tatsächlich nicht einfach. Von ihr ist aber wesentlich das Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarn und den Juden abhängig. Was immer nach 1945 an fruchtbaren Bemühungen unternommen worden sind, das Verhältnis von Deutschland gegenüber seinen Nachbarn im Osten nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg zu verbessern - die "Charta" der Vertriebenen war allenfalls im innerdeutschen Diskurs von Belang. Will man sich auf den jetzt plötzlich wieder zurückziehen?

Dafür gibt es in dem Antrag durchaus einen Anhaltspunkt: Vor der "Versöhnung" mit den Nachbarn fordert der Antrag nämlich "die Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst beim Kapitel Vertreibung". Geht es hier also am Ende doch weniger um die Nachbarn? Welche "Aussöhnung" der Deutschen mit sich selbst ist denn dabei aber gemeint? Wenn sie auf dem problematischen Fundament der "Charta" von 1950 geschehen sollte, ist von ihr jedenfalls nichts Gutes zu erwarten.

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