Plädoyer im NSU-Prozess:Darum ist die Bundesanwaltschaft von Zschäpes Schuld überzeugt

Die Ankläger sehen Zschäpe als Mitgründerin und Mittäterin der rechtsextremen Terrorzelle NSU überführt. Puzzlestück für Puzzlestück fügen sie zusammen, was gegen die Angeklagte spricht.

Aus dem Gericht von Annette Ramelsberger

Bundesanwalt Herbert Diemer ist ein freundlicher, weißhaariger Herr. 63 Jahre alt, geborener Bayer, einer, der weiß, wie das Leben läuft und dass es sich selten an Planungen hält. 374 Tage hat er schon hier in München verbracht, vom ersten Tag des Verfahrens am 6. Mai 2013 bis zu diesem Dienstag, dem 375. Tag, an dem es nun wirklich losgehen soll mit den Plädoyers, also mit der Schlussphase dieses in vielerlei Hinsicht einmaligen Strafprozesses.

Aber wer weiß das schon so genau? In diesem Verfahren ist nichts gewiss, bevor es nicht passiert. Der NSU-Prozess ist wie ein Naturereignis. Er macht, was er will. Man muss ihn hinnehmen wie das Wetter. Als es dann wirklich losgeht, ist auch Diemer überrascht. "Darf ich noch kurz meine Notizen holen?", fragt er verdutzt den Richter. Gelächter im Saal.

Dann legt Diemer los. Und alles Freundliche ist nun verschwunden. Es ist der letzte große Prozess im Berufsleben Diemers. Er hat russische Spione angeklagt und Linksradikale; aber dieses Verfahren ist die Krönung seiner Laufbahn. Er macht sofort deutlich, in welche Richtung die Bundesanwaltsschaft zielt: Sie sieht die Hauptangeklagte Beate Zschäpe durch den Prozess als Mitbegründerin und Mittäterin der Terrorzelle NSU überführt - was die Höchststrafe nach sich ziehen könnte, lebenslang mit besonderer Schwere der Schuld. Doch das Strafmaß wollen die Ankläger erst zum Ende ihres Plädoyers fordern - vermutlich am Dienstag.

Nach Diemer sprechen noch die Oberstaatsanwälte Anette Greger und Jochen Weingarten, insgesamt 22 Stunden lang. Es ist ein Anklage-Marathon. Diemer macht den Anfang. Und sofort fällt auf: Die Bundesanwaltschaft blickt nicht nur auf die Angeklagten, sie nimmt auch ihre eigenen Kritiker ins Visier.

"Es ist unzutreffend, wenn behauptet wird, der NSU-Prozess habe Fehler staatlicher Behörden nicht aufgeklärt oder den weiteren Unterstützerkreis des NSU nicht weiter durchleuchtet", sagt er. Fehler staatlicher Behörden müssten durch politische Gremien aufgeklärt werden, nicht vor Gericht, sagt Diemer. "Anhaltspunkte für die strafrechtliche Verstrickung staatlicher Behörden in die Taten des NSU sind nicht aufgetreten, sonst wären sie strafrechtlich verfolgt worden."

Aus Diemer spricht offenkundig das verletzte Ehrgefühl eines Beamten, der es als Unterstellung betrachtet, er würde nicht sofort ermitteln, wenn er einen Anhaltspunkt für strafrechtliches Fehlverhalten hat. Doch Diemers Satz sagt nichts darüber aus, wie stümperhaft und auf dem rechten Auge blind die Behörden ihre Arbeit jahrelang versahen, insbesondere die Verfassungsschützer. Selbst wenn ihnen strafrechtlich nichts nachzuweisen ist.

Motiv, der "Wahn von einem ausländerfreien Land"

Für Diemer ist die Überprüfung staatlichen Versagens nicht Aufgabe des Strafprozesses vor dem Oberlandesgericht München. Er kritisiert offen manche Nebenkläger, die der Bundesanwaltschaft und dem Gericht seit Langem vorwerfen, sich zu sehr auf die fünf Angeklagten zu konzentrieren und die rechten Strukturen außer Acht zu lassen. Das, so Diemer, "verunsichert die Opfer und verunsichert die Bevölkerung". Alles Gerede um die Verstrickung der Behörden in die Morde sei wie "Fliegengesumm in den Ohren." Also: laut, lästig, aber unwichtig.

Plädoyer im NSU-Prozess: Die Einweihung eines Denkmals für das NSU-Opfer Halit Yozgat in Kassel.

Die Einweihung eines Denkmals für das NSU-Opfer Halit Yozgat in Kassel.

(Foto: Regina Schmeken)

Dann ändert sich Diemers Tonlage. Langsam nennt er alle neun Mordopfer des NSU, die ausländische Wurzeln hatten. Mit Namen. Mit Alter. Von Enver Şimşek, dem ersten, bis zu Halit Yozgat, dem letzten. Und sagt: "Sie wurden von Beate Zschäpe und ihren Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hingerichtet, weil sie ausländischer Herkunft waren und in den Augen ihrer Mörder in Deutschland nichts zu suchen hatten. Die Menschen sollten so verunsichert werden, dass sie das Land verlassen."

Für ihn ist auch der Hintergrund klar. "Das Motiv für die Morde war die rechtsextreme Ideologie, der Wahn von einem ausländerfreien Land. Die Taten sollten unser friedliches, freundliches Land in seinen Grundfesten erschüttern, um einem widerwärtigen Naziregime den Boden zu bereiten."

Puzzlestück für Puzzlestück gegen Zschäpe

Der Prozess

Noch ist es nicht der längste Strafprozess in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber das NSU-Verfahren steht bereits für manche Rekorde. Der Prozess in Zahlen:

Bisher sind es 375 Verhandlungstage. Im Schnitt begann ein Verhandlungstag mit 16 Minuten Verspätung

150 000 Euro kostet der Prozess am Tag, damit sind es insgesamt 56 Millionen

Fünf Richter urteilen über die Angeklagten, drei Ersatzrichter gab es am Anfang. Von ihnen ging eine Richterin in Rente, eine zum BGH. Bleibt noch einer

Drei Staatsanwälte arbeiten an dem Fall

95 Nebenkläger sind vertreten mit 60 Anwälten

14 Verteidiger vertreten fünf Angeklagte, davon sind fünf für Beate Zschäpe

765 Zeugen wurden gehört, 51 Sachverständige und fünf psychiatrische Gutachter

Zwei Minuten hat Beate Zschäpe selbst gesprochen

22 Stunden soll das Plädoyer der Bundesanwaltschaft insgesamt dauern

SZ

Das zehnte Mordopfer des NSU war die Polizistin Michèle Kiesewetter. Sie und ihr Kollege Martin A. wurden von den NSU-Mördern im Auto überfallen - als "Repräsentanten der von den Extremisten gehassten Polizei", wie Diemer sagt. Kiesewetter sei gestorben, ihr Kollege habe ein "Höchstmaß an Glück" gehabt. Alle Spekulationen, die Mörder hätten Verbindungen zu Kiesewetter gehabt, nur weil sie auch aus Thüringen stammte, seien "haltlos".

Dann geht es in die Einzelheiten. Oberstaatsanwältin Anette Greger, 51, ist die Expertin für Beate Zschäpe. Sie weiß jedes Detail zur Angeklagten, kennt ihre Shampoo-Marke und jedes Komma ihrer Aussage. Für sie ist alles, was Zschäpe vorgebracht hat, nur Exkulpation, "Selbst-Entschuldung".

Greger seziert Leben und Verhalten der Angeklagten. Zschäpe habe schon vor dem Untertauchen tief in der rechten Szene gesteckt und gemeinsam mit ihren Freunden Mundlos und Böhnhardt rechte Aktionen durchgezogen. Und doch will Zschäpe, laut ihrer eigenen Erklärung, jedesmal entsetzt und enttäuscht über die Morde ihrer Freunde gewesen sein.

Was gegen Zschäpe spricht

Greger stellt rhetorische Fragen: "Wie oft kann eigentlich die rechtsextreme Gesinnungsgenossin Zschäpe überrascht und enttäuscht gewesen sein über die Taten ihrer Freunde?" Sie, die sich in Richtungsdiskussionen vor dem Untertauchen für den bewaffneten Kampf ausgesprochen hatte? Sie, die das Hetzspiel Pogromly gebastelt hat, in dem "eine schöne judenfreie Stadt" Spielziel ist? "Wie passt dazu, dass sie nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße bestens gelaunt mit Mundlos und Böhnhardt in den Urlaub fährt? Wir haben die Fotos aus dem Juli/August 2004, die die Intimität und Innigkeit der drei zeigen, hier in Augenschein genommen", sagt Greger.

Puzzlestück für Puzzlestück fügt Greger zusammen, was gegen Zschäpe spricht. Eine spontane Auskunft vor Gericht habe sie durchweg abgelehnt. Alles sei nur von ihren Verteidigern formuliert und vorgetragen worden. Den Vertretern der Nebenklage und dem Gutachter Henning Saß habe sie nicht Rede und Antwort gestanden. Auskünfte an die Opferfamilien habe sie verweigert, ebenso die Auseinandersetzung mit wichtigen Beweismitteln. "Setzt man sich inhaltlich mit ihren Angaben auseinander, lässt das nur schuld-indizielle Schlüsse zu", sagt Greger. Übersetzt heißt das: Alles spricht gegen Zschäpe: "Sie war die Tarnkappe des NSU."

Vor allem das Bild, das die Angeklagte von der Dreiergruppe im Untergrund zeichnet, kann laut Greger nicht zutreffen. Zschäpe hatte erklärt, sie sei isoliert gewesen, die Männer hätten ihr nicht getraut. Greger dagegen sieht sie als gleichberechtigte Persönlichkeit. Sie habe die menschenverachtende Gesinnung ihrer Gefährten geteilt. Noch auf der Flucht habe sie das Bekennervideo verschickt. "Es kam ihr darauf an, die Opfer mit der grausamen Verunglimpfung zu verletzen. Ihr Verhalten belegt, dass die Angeklagte durchaus zu einem Stich ins Herz imstande war."

Zschäpe hört zu, macht sich Notizen. Ihre Verteidiger werden im Herbst sprechen.

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