Piratenpartei nach der Wahl:Hype ohne Ende

Der Boom der Piratenpartei geht auch nach der Wahl weiter. Sie lockt Parteiverdrossene mit einer neuen Form der Basisdemokratie: Liquid Democracy.

Michael König

Eigentlich hätte sich die Piratenpartei nach der Bundestagswahl gleich wieder auflösen können. Nach Meinung der einzigen Jury, die die etablierten Parteien als kompetent durchgehen lassen, haben die Polit-Freibeuter ohnehin keine Chance, langfristig bestehen zu können. Bei dieser Jury handelt es sich allerdings um die etablierten Parteien selbst.

Im Wahlkampf straften sie die Piraten zunächst mit Missachtung, dann warnten sie die Wähler, Piratenstimmen seien verlorene Stimmen. Als dennoch zwei Prozent für die Piraten votierten, machten sich die Etablierten daran, deren Wähler zum umgarnen.

Grüne und Sozialdemokraten vertreten hinter vorgehaltener Hand die Auffassung, dass sie sich nur stärker um das Internet kümmern müssten, um den Piraten das Wasser abzugraben. Die FDP profilierte sich in den Koalitionsverhandlungen als Datenschutzpartei und setzte durch, dass die von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) initiierten Netzsperren zum Schutz vor Kinderpornographie ausgesetzt werden. Das Bundeskriminalamt soll kriminelle Inhalte löschen statt sperren - so hatten es auch die Piraten gefordert.

Für heimliche Online-Durchsuchungen ist unter der schwarz-gelben Regierung künftig eine Anordnung der Bundesanwaltschaft nötig. Und bei der Vorratsdatenspeicherung solle die Nutzung der Daten auf schwere Gefahrensituationen beschränkt werden, sagte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU).

Diese Neuregelung geht den Piraten freilich nicht weit genug: "Wir vermissen das Wort Gesetzesrücknahme", heißt es in einer Pressemitteilung. Mit "Einschränkung, Evaluierung und Aufschub" sei es nicht getan. Dennoch hat es den Anschein, als könnten sich die Vorhersagen der Wissenschaft bewahrheiten.

Dieter Rucht, Soziologe vom Wissenschaftszentrum Berlin, sagte gegenüber der Wirtschaftswoche: "Ich gebe ihnen keine große Chance auf dem Markt der politischen Parteien." Auch Wichard Woyke, Politikwissenschaftler an der Universität Münster, sieht die Überlebensfähigkeit der Bewegung kritisch: "Die Piraten haben ein eindimensionales Programm. Wenn es sich weiter nur auf Informationsgesellschaft stützt, lässt sich damit keine Gesamtpolitik machen."

Die Vorhersagen sind finster. Andreas Baum hat trotzdem gute Laune. Der Berliner Landesvorsitzende der Piratenpartei sitzt in einer Kneipe in Berlin-Kreuzberg und unterhält sich. Es ist Dienstag, 19.30 Uhr, der wöchentliche Stammtisch der Berliner Piraten könnte jetzt beginnen, wenn nicht noch immer mehr Menschen in den Raum strömen würden. Etwa 50 sind es am Ende. Ein Drittel von ihnen meldet sich, als Andreas Baum nach Neulingen fragt.

Der Mitglieder-Boom bei den Piraten nimmt kein Ende. Er begann kurz nach der Europawahl, bei der die Piraten in Schweden überraschend auf 7,1 Prozent der Stimmen kamen. In der Bundesgeschäftsstelle registrierte die Partei anschließend im Durchschnitt etwa 70 neue Mitglieder pro Tag. Vor der Bundestagswahl stieg dieser Wert auf etwa 90 Anmeldungen täglich, seit dem 27. September liegt er nach Parteiangaben wieder bei etwa 70.

Auf der nächsten Seite: Die Piraten versprechen Basisdemokratie 2.0 - eine alte Idee mit modernen Mitteln.

Der Schlüssel zu Aristoteles

Im gesamten Bundesgebiet sind seit 2006 etwa 10.900 Menschen eingetreten, im Berliner Landesverband sind es derzeit etwa 730. Wer angenommen hatte, der Hype würde nach der Bundestagswahl zu Ende gehen, wird von Menschen wie Eberhard Zastrau eines Besseren belehrt.

Der 55-Jährige ist am Dienstag zum ersten Mal in die Stammkneipe Breipott gekommen, in der sich die Berliner Piraten versammeln. Zastrau hatte sich im Wahlkampf engagiert, jetzt möchte er den Landesvorstand kennenlernen. Er ist alles andere als unbefleckt, was die Politik angeht: "Ich habe 13 Jahre FDP und sieben Jahre SPD hinter mir", sagt Zastrau und lacht. "Beide haben mich bitter enttäuscht."

Der Bürgerrechtler konnte sich mit den Programmen und dem jeweiligen Politikstil nicht mehr identifizieren, deshalb ist er ausgetreten. Bei den Piraten will er nicht Mitglied werden, aber mitarbeiten. Die Partei erlaubt es ihm.

"Wir schließen niemanden aus und sprechen mit jedem", sagt der Landesvorsitzende Baum. Der 31-Jährige ist technischer Leiter eines Medienunternehmens in Berlin und seit März 2008 Landesvorsitzender der Berliner Piraten. Er spricht jedoch wie einer, der schon seit Jahrzehnten in der Politik unterwegs ist.

Menschen wie Zastrau will er auf Dauer an die Partei binden, indem er ihren Traum von Basisdemokratie verwirklicht. Dieser Traum ist uralt, er findet sich schon in der idealtypischen Dorfgemeinschaft von Aristoteles: Jeder Bürger soll nach seiner Meinung gefragt werden.

Im großen Stil war das bislang nicht umsetzbar, weil die Meinungen vieler Menschen oft weit auseinander liegen, weil sich große Menschenmengen nur schwerlich einigen können - und weil es technisch kaum möglich war, alle Menschen zu erreichen. In Deutschland kommt noch ein tiefes Misstrauen gegenüber Volksabstimmungen hinzu, das seinen Ursprung in der gescheiterten Weimarer Republik hat.

Die Piraten glauben, nun im Internet den Schlüssel zur Basisdemokratie gefunden zu haben. Ihr Ansatz heißt "Liquid Democracy", zu deutsch "flüssige Demokratie". Demnach kann der Bürger selbst entscheiden, ob er selbst abstimmt oder einen Politiker damit beauftragt. Er kann sich zum Beispiel in steuerrechtlichen Fragen von der FDP vertreten lassen, in Umweltfragen von den Grünen und bei der Schulpolitik von einer Privatperson.

Auf der Wikipedia-Seite der Piraten heißt es, man müsse sich somit nicht mehr für ein "Bündel von Prinzipien" entscheiden, wie das derzeit bei den etablierten Parteien der Fall ist. Stattdessen könne man sich "je nach Thema die Experten aussuchen, denen man vertraut - oder selbst entscheiden."

Auf der nächsten Seite: Liquid Democracy soll die etablierten Parteien "moralisch unter Druck" setzen. Das Prinzip ist jedoch intern umstritten.

Die FDP als Katapult

War das Pochen auf ein freies Internet für viele Piraten die Einstiegsdroge, so soll Liquid Democracy dafür sorgen, dass sie langfristig dabei bleiben. "Das ist unsere zweite Säule", sagt der Berliner Landesvorsitzende Baum. "Das haben die Politikwissenschaftler noch gar nicht auf dem Schirm."

Im Partei-Wiki heißt es, die "anderen Parteien" würden damit "unter moralischen Druck" gesetzt, weil sie so viel Mitbestimmung nicht anbieten würden. "Außerdem sind wir der Meinung, dass so ein System ein echter Grund ist, die Piratenpartei zu wählen."

An anderer Stelle wird allerdings schon vor den Gefahren gewarnt: Die Transparenz sei nicht gewährleistet, Manipulation könne nicht ausgeschlossen werden. Und was wird eigentlich aus der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers?

So weit wollen die Piraten noch nicht denken. Sie wollen ihr Prinzip der flüssigen Demokratie zunächst auf Parteitagen testen. An einer technischen Umsetzung wird gearbeitet - sie könnte Google Wave ähneln, einer neuen Software des Suchmaschinen-Giganten, die das gemeinsame Arbeiten unterschiedlicher Benutzer an einem Dokument über das Internet ermöglicht.

Auch an der Abgrenzung zum politischen Gegner wird gearbeitet. War bislang "Zensursula" alias Familienministerin Ursula von der Leyen das Feindbild, so gehen die Piraten nun die FDP offensiv an.

Deren Vorstoß in Sachen Datenschutz sei nur Maskerade: "Was wir brauchen, ist ein echtes Gegensteuern. Ein Umdenken. Dazu fühlt sich die FDP aber offensichtlich nicht verpflichtet", sagt Florian Bischof, der Berliner Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf.

Dass ihnen die Liberalen die Wähler abspenstig machen könnten, will in Berlin niemand glauben. Bei der Landtagswahl 2010 in Nordrhein-Westfalen soll sich zeigen, dass der Erfolg bei der Bundestagswahl kein Zufall war. Und für 2011 wird fest damit gerechnet, in den Berliner Senat einzuziehen. In beiden Ländern konnte die Piratenpartei bei der Bundestagswahl Achtungserfolge vorweisen. In einigen Berliner Wahlkreisen fiel ihr Ergebnis zweistellig aus.

Der Positivtrend soll auch dadurch befeuert werden, dass sich die Partei gegenüber neuen Politikfeldern öffnet. Der Berliner Landesvorsitzende Baum hält das für einen Automatismus: "Viele Piraten arbeiten schon jetzt an vielen Dingen in vielen Bereichen."

Wie zur Bestätigung meldet sich beim Berliner Stammtisch ein Pirat zu Wort: Er hat ein Konzeptpapier zum bedingungslosen Grundeinkommen erstellt, dass er verteilen möchte. Anklang findet er damit aber nicht, den Großteil seiner sozialpolitischen Thesen nimmt er wieder mit nach Hause. "Am Inhalt hat das aber nicht gelegen", sagt er und lächelt: "Die meisten haben gefragt, ob sie das nicht auch im Netz abrufen können."

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