Süddeutsche Zeitung

Piraten und Expertenregierung in Griechenland:Fremde Brüder

In Griechenland soll eine Expertenregierung die Wirtschaftskrise bekämpfen, in Deutschland feiern die Piraten mit der Forderung nach ständiger Partizipation aller Bürger Wahlerfolge. Auch wenn diese beiden Tendenzen auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, weisen sie doch auf ein und dasselbe Problem hin: Der Politik fehlt die Legitimation.

Armin Nassehi

In Griechenland kommt es nun doch zu Neuwahlen und nicht zu einer sogenannten Expertenregierung. Dennoch ist bemerkenswert, dass eine solche Regierung erwogen wurde. Ihre Aufgabenbeschreibung war identisch mit jener, die für die italienische Expertenregierung unter Führung des Wirtschaftsprofessors Mario Monti gilt, die seit dem November im Amt ist: Sie soll eine Sparpolitik durchsetzen und so die Staatsfinanzen in den Griff bekommen.

An der Dynamik der Krise hat das wenig geändert, wie die Herabstufung mehrerer italienischer Banken durch Moody's vor wenigen Tagen gezeigt hat. Diese Dynamik besteht darin, dass die Sparpolitik jene Rezession begünstigt, die sie selbst verhindern soll - weil ihre Sparprogramme die Nachfrage schwächen. Die Herabstufung wird nun ein Übriges tun.

Wir kennen diese Dynamik, und sie scheint derzeit fast zwangsläufig zu sein, was auch mit der Konstruktion des Euros zu tun hat. Aber darum soll es hier nicht gehen, sondern darum, dass schon der Begriff der Expertenregierung auf eine merkwürdige Schieflage hinweist. Er macht darauf aufmerksam, dass man gewählten Regierungen offensichtlich keinen Expertenstatus zuschreibt, was angesichts der Berlusconi-Regierung in Italien und angesichts der geradezu chaotischen Verhältnisse in Griechenland auch nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Wenn also nach einem Wahlgang in schwierigen Zeiten statt der Gewählten eine Expertenregierung die Geschäfte führen soll, verweist das auf ein grundlegendes Legitimationsproblem der Politik.

Die Demokratie lebt von einem Machtkreislauf, der eine eigentümliche Abhängigkeit des Staates vom Volk bewirkt. Loyalität, also Wählerstimmen, werden gegen verstehbare Entscheidungen und entsprechende Ordnungsleistungen getauscht. Gelungen ist dieser Tausch dann, wenn auch jene, die nicht der Mehrheit angehören, die Entscheidungen des Staates mittragen. Dies gibt dem politischen System Stabilität und macht Entscheidungen durchsetzbar. Was die Entscheidung legitimiert, ist mehr die politische Logik der Gefolgschaft und des Vertrauens und weniger die Expertise und das alternativlose Wissen. In Form ihrer gewählten Vertreter hat die Bevölkerung an den politischen Entscheidungen Anteil - und kann nach Fehlern seine Entscheidungen revidieren.

Wo solche Konstellationen nicht funktionieren, kommt man auf die Idee von Expertenregierungen. Sie besitzen angeblich ein eindeutiges Wissen - als sei die gegenwärtige Überbietungsdynamik zwischen Staatsverschuldung und wirtschaftlichen Produktivitätsproblemen einfach nur das Ergebnis von zu wenig Wissen und mangelnder Beteiligung von Experten. Trotzdem: Das Expertentum gilt in der Krise als Garant für klare und eindeutige Lösungen.

Was ist die andere Seite dieser Konstellation? Wer nicht nach Experten ruft, ruft nach Partizipation - aber ebenso wie Expertise ist Partizipation mehr eine Problemformel als eine Lösung. Denn ein erfolgreiches politisches Gemeinwesen ist auf ein Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft angewiesen, das ohne die Zumutung permanenter und unmittelbarer Beteiligung auskommt. Partizipation ist, neben der Teilnahme und Beobachtung von politischen Debatten, letztlich auf punktuelle Ereignisse begrenzt, vor allem auf Wahlen. Sie binden Politik und Publikum aneinander. Wahlen vermögen im besten Fall, Partizipation für beide Seiten handhabbar zu machen, ohne dass über jeden einzelnen inhaltlichen Punkt kollektiv entschieden werden müsste.

Inzwischen gehört es zur politischen Rhetorik, mehr Partizipation einzufordern. Man stelle sich aber vor, die Bürger würden tatsächlich sich in dieser Weise in den politischen Prozess einbringen. Man kann die Verunsicherung staatlicher Politik geradezu mit Händen greifen, wenn es dann tatsächlich zur totalen Partizipation kommt.

Aktueller Ausdruck dieser Verunsicherung sind die Piraten. Sie träumen von einer Punkt-für-Punkt-Verbindung von staatlicher Entscheidung und politischer Partizipation; sie misstrauen der punktuellen Form der Partizipation. Das macht sie manchmal selbst handlungsunfähig, da sich stets und sofort alles ändern kann und sich Kommunikation so nicht organisieren lässt. So unbeholfen und naiv, so uninformiert und zugleich politikfern dies auch scheinen mag - wer die Piraten politisch nicht ernst nimmt, nimmt die Vertrauenskrise nicht ernst, die wir derzeit beobachten müssen.

Die Piraten würden nie auf die Idee kommen, eine Expertenregierung vorzuschlagen. Sie wäre für sie der Sündenfall schlechthin. Piraten kokettieren ja sogar damit, dass ihnen jegliche Expertise fremd ist. Sie haben auch nicht umsonst Schwierigkeiten mit dem geistigen Eigentum und der unvermeidlichen Asymmetrie von Wissen. Ihnen ist die Frage des Vertrauens in die politischen Prozesse, in Partizipation und Transparenz derzeit noch wichtiger, als inhaltliche Fragen es sind. Sie misstrauen dem Machtkreislauf der demokratischen Politik, den beständigen Entscheidungen, die sich mit ihm verbinden. Eine Expertenregierung muss aus dieser Perspektive tatsächlich die schlimmste Bestätigung aller Befürchtungen sein.

Der Erfolg der Piraten wie auch die Hoffnung auf Expertenregierungen als letztem Ausweg sind aus gleichem Holz geschnitzt. Sie weisen beide darauf hin, dass das Vertrauen in den Machtkreislauf der Politik gestört ist. Sie weisen beide darauf hin, dass die Handlungsfähigkeit staatlicher Politik schwindet, wenn die Staatsschuldenkrise nicht bewältigt wird. Sie weisen beide darauf hin, dass staatliche Politik zur Geisel ihrer eigenen Versprechen geworden ist, der Machtkreislauf von Vertrauen gegen verstehbare Entscheidungen unterbrochen ist. Sie weisen beide darauf hin, dass die strukturellen Probleme des politischen Systems, Vertrauen nur durch geldwerte Leistungen kaufen zu können und deshalb Wahlkämpfe nur als Überbietungswettbewerbe für bestimmte Interessengruppen inszenieren zu können, kaum Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen sind.

Und sie werden beide nicht weiterhelfen - weder die überholte Idee von eindeutigem Wissen und klarer Expertise als Problemlösungsmittel, noch der naive Traum der Anwesenheitsdemokratie. Aber sie weisen womöglich darauf hin, worum es politisch gehen könnte.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber der Zeitschrift "Kursbuch".

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Quelle:
SZ vom 18.05.2012/beitz
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