Philosoph über globale Gerechtigkeit:Wie die Vereinten Nationen den Hunger kleinrechnen

Philosoph über globale Gerechtigkeit: Ein indischer Arbeiter schleppt einen Sack Reis: Nach der UN-Definition von Hunger könnte er wohl kaum so hart arbeiten.

Ein indischer Arbeiter schleppt einen Sack Reis: Nach der UN-Definition von Hunger könnte er wohl kaum so hart arbeiten.

(Foto: AFP)
  • Als moralischen Skandal bezeichnet Thomas Pogge die UN-Entwicklungsziele.
  • Pogge ist Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten an der Universität Yale. Er hat mehrere Bücher zum Thema globale Gerechtigkeit veröffentlicht.
  • Im Interview sagt Pogge, dass Hunger heute leicht vermeidbar wäre - allerdings scheitere man am Widerstand der Reichen.

Von Karin Janker

SZ.de: Herr Pogge, 2015 ist ein wichtiges Jahr für die Welt: Die Vereinten Nationen haben sich vorgenommen, bis zu diesem Datum den weltweiten Hunger zu halbieren. Es scheint, als könnten wir stolz sein auf das, was die UN erreicht haben.

Thomas Pogge: Die UN-Entwicklungsziele sind in Wirklichkeit ein moralischer Skandal. Die reichen Länder machen den Armen damit vor, sie würden sich um sie kümmern - dabei wurde mit den Zahlen so lange getrickst, bis die Ziele so einigermaßen erreicht waren.

Sie werfen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Manipulation vor. Inwiefern genau?

Die partiellen Erfolge, die sich beim Blick auf den weltweiten Hunger zeigen, sind das Ergebnis von kosmetischen Verschönerungen an der Methodologie und der Definition von Hunger. Beim Ernährungsgipfel 1996 in Rom war noch propagiert worden, die Anzahl der chronisch Unterernährten - damals 788 Millionen Menschen - zu halbieren. In der Milleniumserklärung im Jahr 2000 versprach man nur noch, ihren Anteil an der Weltbevölkerung zu halbieren. Weil die Bevölkerung aber wächst, dürfen nun plötzlich mehr Menschen Hunger leiden. Und selbst dieses Ziel wurde verwässert, als die Millenniums-Entwicklungsziele den Anfang der Messperiode auf 1990 zurückverlegten und vorsahen, den Anteil der Unterernährten an der schneller wachsenden Bevölkerung der Entwicklungsländer zu halbieren.

Millennium-Entwicklungsziele der UN

In den Millenniums-Entwicklungszielen (englisch kurz: MDGs) haben die Vereinten Nationen acht Entwicklungsziele für das Jahr 2015 beschlossen. Die Ziele wurden von Vertretern der Vereinten Nationen, der Weltbank, des IWF und der OECD formuliert und beim Millennium-Gipfel 2000 von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet. Das übergeordnete Ziel lautete, die Armut in der Welt bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Die verabschiedete Millenniumserklärung beinhaltet einen Katalog verpflichtender Zielsetzungen für alle Mitgliedstaaten. Konkret heißt es dort: Der Anteil der Menschen, die unter Hunger leiden, soll um die Hälfte gesenkt werden.

Was bedeutet das konkret?

In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass die UN noch 1996 das Ziel hatten, die Anzahl hungernder Menschen bis 2015 auf 394 Millionen zu senken. Nach mehrmaliger Korrektur der Berechnungsweise sind jetzt stattdessen 724 Millionen Hungernde zulässig. Dieses Ziel wird nun tatsächlich annähernd erreicht werden - zur Zeit hungern offiziell 805 Millionen.

Was definiert die FAO als Hunger?

Auch diese Definition wurde 2012 angepasst. Heute gilt als chronisch unterernährt ein Erwachsener, der über ein Jahr lang weniger als 1800 Kalorien pro Tag zu sich nimmt. Der Mangel an Eiweiß oder Vitaminen zählt also nicht - und auch nicht der Hunger derer, die körperlich arbeiten müssen und deshalb mehr als 1800 Kalorien verbrauchen.

Die FAO geht also von einem unrealistischen Wert aus?

Die Berechnung ist absurd. Die Menschen in Entwicklungsländern arbeiten meist körperlich hart, Waschmaschinen oder Ähnliches gibt es nicht. Ein hungernder Rikschafahrer ist nach dieser Definition unmöglich - er würde verhungern, bevor das Jahr um ist.

Sie haben über diese Zahlenspielereien Bücher veröffentlicht und Vorträge gehalten - warum gibt es keinen Aufschrei ob dieser Ungerechtigkeit?

Weil die Armen keine Lobby haben. Sie sind politisch ohnmächtig, haben keine Stimme in den Medien. Und wir Wohlhabenderen lassen uns leicht vorgaukeln, die Welt mache Fortschritte im Kampf gegen den Hunger.

Wie gerechtere Spielregeln aussehen können

Der Entwicklungsorganisation Oxfam zufolge wird die weltweite Ungleichverteilung von Vermögen schon im Jahr 2016 einen Rekordwert erreichen: Dann wird ein Prozent der Menschheit so viel Vermögen angehäuft haben wie die restlichen 99 Prozent der Weltbevölkerung zusammen. Abgesehen von einem kurzen Schock und einem etwas länger andauernden schlechten Gewissen - was bringen solche Nachrichten?

Im besten Fall den Impuls, sich politisch zu engagieren. Dass Bürger sich innerhalb von Parteien und als Wähler dafür einsetzen, dass unsere Regierungen dafür sorgen, dass die Spielregeln auf der Welt zumindest minimal gerecht sind. Wir müssen den Politikern zeigen, dass uns dieses Thema wichtig ist und sie auch danach befragen, was sie gegen die Armut in der Welt unternehmen wollen, wenn sie die Wahlen gewinnen.

Wie könnten gerechtere Spielregeln aussehen?

Ein Beispiel sind Subventionen für Landwirtschaft: Die reichen Länder unterstützen ihre Landwirte mit insgesamt 300 Milliarden Dollar pro Jahr, damit sie Produkte erzeugen, die ohne die Subventionen gar nicht marktfähig wären und die Landwirtschaft in armen Ländern unrentabel machen und zerstören. Wenn wir schon den Anbau von Baumwolle oder Mais in unseren Ländern subventionieren wollen, sollten wir den armen Ländern wenigstens eine Kompensation dafür zahlen, dass wir sie damit aus dem Markt drängen.

Wie idealistisch muss man sein, um daran zu glauben, dass wir den Hunger in der Welt tatsächlich abschaffen könnten?

Der eigentliche Skandal ist ja, dass Hunger heute leicht vermeidbar wäre. Es gibt also durchaus eine realistische Lösung: Wir müssen die Weltwirtschaftsregeln so umstellen, dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung etwa 60 Prozent mehr Einkommen hätte. Die reichsten 20 Prozent hätten dann etwa 2,5 Prozent weniger. Also auch jeder von uns.

Zur Person

Thomas Pogge, geboren 1953, ist Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten an der Universität Yale. Derzeit arbeitet Pogge während eines Forschungsaufenthalts in seinem Heimatland Deutschland unter anderem an einer neuen Methode zur Berechnung von Armut. Pogge promovierte in Harvard bei John Rawls. Er ist Mitglied der Organisation Academics Stand Against Poverty (ASAP) und veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema globale Gerechtigkeit, auf Deutsch erschien unter anderem "Weltarmut und Menschenrechte".

Das klingt tatsächlich realistisch und auch nicht so, als wäre es für uns besonders schmerzhaft.

Aber es scheitert am politischen Widerstand der Reichen: Die Mehrheit ist darauf bedacht, ihren Wohlstand zu mehren.

Haben Sie als Philosoph den Glauben in die Menschheit, dass sie diesen Egoismus ablegen kann?

Absolut. Der Egoismus ist nicht Teil der menschlichen Natur, sondern nur Teil unserer Gesellschaftsordnung, die einen Konkurrenzkampf auf Kosten der anderen propagiert und die belohnt, die sich durchsetzen. Natürlich sind Führungspositionen in Ordnung, aber das System sollte auch den Ärmsten nutzen. Dazu könnte man die Menschheit verpflichten.

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