Philosoph Slavoj Žižek über Asylpolitik:"Merkel hat zu lange geblufft"

Philosoph Slavoj Žižek über Asylpolitik: Ein Flüchtlingstreck nach dem Grenzübertritt nach Deutschland: "Wenn wir Migranten ernst nehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, kann daraus eine Chance für Europa werden, ein emanzipatorisches Projekt, in dem wir den Kern Europas stärken."

Ein Flüchtlingstreck nach dem Grenzübertritt nach Deutschland: "Wenn wir Migranten ernst nehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, kann daraus eine Chance für Europa werden, ein emanzipatorisches Projekt, in dem wir den Kern Europas stärken."

(Foto: AP)

Der Philosoph Slavoj Žižek sieht die Integration von Flüchtlingen als Chance für eine neue Leitkultur in Europa. Die Forderung nach offenen Grenzen kritisiert er als heuchlerisch.

Interview von Karin Janker, New York

Philosoph Slavoj Žižek über Flüchtlinge, Integration und Leitkultur

Quelle: Die Zeit, Nr. 37/2015, 10. September 2015

(Foto: SZ.de)
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SZ: Herr Žižek, mit Anerkennung, Verwunderung, aber auch Spott und Sorge blicken andere Länder auf Deutschland und seinen Umgang mit Flüchtlingen. Was halten Sie von der deutschen Asylpolitik?

Slavoj Žižek: Deutschlands Offenheit gegenüber Flüchtlingen war für mich ehrlich gesagt eine positive Überraschung. Wir leben in rauen Zeiten, die Barbarei greift immer mehr um sich. Da muss sogar ich als radikal Linker die Bemühungen Deutschlands anerkennen.

Ein Lob für Angela Merkel würde man von Ihnen tatsächlich nicht erwarten.

Ich wundere mich selbst ein wenig. Allerdings finde ich, sie könnte noch einen Schritt weiter gehen und sehr viel brutaler die Solidarität anderer Länder in der EU einfordern, zum Beispiel von Ungarn, Kroatien oder auch von meinem eigenen Land, Slowenien, für das ich mich gerade in diesen Tagen sehr schäme. Eine europaweite Koordination der Flüchtlingspolitik ist notwendig, um eine Katastrophe zu verhindern.

Mittlerweile schrumpft Merkels Rückhalt - sowohl unter Wählern als auch in der eigenen Partei. Macht Helfen unpopulär?

Merkel hat einen Fehler gemacht: Sie hat zu lange geblufft. Die Menschen erkennen keinen Plan hinter ihrer Politik, das ist es, was ihnen Angst macht. Es klingt vielleicht zynisch, aber als Politiker sollte man immer so wirken, als hätte man einen Plan - auch und gerade dann, wenn man eigentlich keinen hat.

Zur Person

geboren 1949 in Ljubljana, international berüchtigter Philosoph und Kritiker, sein Denken ist insbesondere geprägt von der Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik und Lacans Psychoanalyse. In internationalen Medien bezieht Žižek immer wieder kritisch Position zu politischen Themen wie der Krise in Griechenland, TTIP oder Migration.

Sie glauben, Merkel handelt planlos?

Ich frage mich zumindest, was hinter ihrer Politik steckt. Vielleicht geht es darum, der deutschen Wirtschaft mit diesen Arbeitskräften einen neuen Boom zu erschaffen. Angela Merkel müsste das der Öffentlichkeit aber mitteilen: Wir haben nicht genug Fachkräfte und können mittels vernünftiger Wirtschaftspolitik davon profitieren, dass Flüchtlinge ankommen.

Auch eine gewisse Form der Militarisierung könnte Ordnung ins Chaos bringen: Soldaten sollten eingesetzt werden, um zu helfen, ähnlich wie bei Naturkatastrophen. Dann hätten die Menschen nicht länger die Sorge, dass da etwas unkoordiniert aus dem Ruder läuft. Diese gefühlte Unsicherheit ist gefährlich.

Welche Folgen hat die Ankunft der Flüchtlinge Ihrer Meinung nach für Europa?

Die unmittelbare Hilfe für Menschen in Not ist moralisch absolut unabdingbar. Unkoordinierte Zuwanderung allerdings gefährdet den Kern Europas - und zwar nicht bloß, weil da Menschen aus fremden Kulturkreisen kommen, sondern weil wir Europäer aufzugeben drohen, was das Beste und Wertvollste an Europa ist.

Nämlich?

Universalismus, Menschenrechte, Solidarität, Aufklärung. Das bildet für mich das Herzstück Europas. Diese Werte sind momentan von zwei Seiten her bedroht: Auf der einen Seite durch rechtspopulistische Einwanderungsgegner, die ihr Land am liebsten abschotten wollen und durch die Unsicherheit vieler Menschen neuen Zulauf bekommen. Auf der anderen Seite ist Europa aber auch bedroht von sentimentalen Linken, die heuchlerisch für offene Grenzen plädieren.

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