Die AfD ist in Deutschland sehr stark geworden, in den USA wird Donald Trump Präsident, in Frankreich könnte Marine le Pen die Regierung übernehmen. Was ist der richtige Umgang mit Rechtspopulisten, wo liegen die Grenzen der Toleranz, und wann wird Kritik zur Beleidigung? Fragen an den Philosophen und Publizisten Michael Schmidt-Salomon.
SZ: Manche Journalisten halten die Wahlerfolge von Trump oder der AfD für die Quittung dafür, dass Politik und Medien den Kontakt zu den "Unvernünftigen", "Vergessenen", "Abgehängten" verloren haben und sie nur noch verachten und beschimpfen. Ist da was dran?
Michael Schmidt-Salomon: Der Erfolg der Rechtspopulisten ist, wie ich meine, auf zwei zentrale Faktoren zurückzuführen. Erstens auf eine zunehmende soziale Ungleichheit. Es ist ja leider so: Wenn Menschen ihren sozialen Status nicht verbessern können, wenn sie sich selbst als Individuen nicht mehr wahrgenommen fühlen, dann neigen sie dazu, sich über die Mitgliedschaft zu einer Gruppe zu definieren, was chauvinistische Abgrenzungen gegenüber "den anderen" verstärkt.
Zweitens fehlt es tatsächlich an einer rationalen Streitkultur. Eine vernünftige gesellschaftliche Debatte hätte diesem Lagerdenken entgegenwirken können, aber dazu ist es in den letzten Monaten nicht gekommen.
Inwiefern war die Debatte nicht vernünftig?
Weite Teile des politischen Mainstreams haben von Vornherein jede noch so vernünftige Aussage bestritten, die zum Beispiel von AfD-Vertretern verbreitet wurde. Auf diese Weise wollte man die Partei schwächen, aber tatsächlich hat man sie gerade dadurch gestärkt.
Wieso denn das?
Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Wenn man sie stoppen will, dann muss man ihnen ihre halben Wahrheiten entziehen, indem man ihnen recht gibt, wo sie recht haben. Eben das ist aber nicht passiert. Das war nicht nur politisch fatal, sondern auch intellektuell unredlich. Schließlich wird eine Wahrheit nicht zur Lüge, bloß weil sie von Frauke Petry oder Beatrix von Storch geäußert wird.
Was wäre denn ein Beispiel für so eine Wahrheit?
Nehmen wir die bekannte Aussage von Beatrix von Storch, dass der politische Islam mit der deutschen Verfassung unvereinbar sei. Das ist zweifellos ein treffendes Argument, das leicht zu untermauern ist, wenn man die Prinzipien des politischen Islam - also einer bestimmten Lesart der muslimischen Religion - mit den Prinzipien der offenen Gesellschaft abgleicht. In der politischen und medialen Auseinandersetzung mit von Storch wurde jedoch behauptet, ein solcher Satz sei eine "Schande für Deutschland".
Damit hat man der AfD das Terrain der kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam überlassen. Und gerade davon hat die Partei ungemein profitiert. Denn: Wer etwas so Offensichtliches wie die Realität des politischen Islam leugnet und den Zusammenhang von Islam und Islamismus bestreitet, der treibt Wählerinnen und Wähler in die Arme von Politikern, die ihre antiaufklärerischen Ziele unter dem Deckmantel einer "aufgeklärten Islamkritik" wunderbar verbergen können.
Religion:Guter Islam, böser Islam
Wer sagt, Terror, Gewalt und die Unterdrückung von Frauen hätten auch mit dem Islam zu tun, gilt schnell als islamophob und fremdenfeindlich. Das schadet einer wichtigen Debatte.
Wenn die AfD vom "politischen Islam" spricht, aber gegen den Bau von Moscheen hetzt und Flüchtlinge unter Generalverdacht stellt, fällt es schwer, sie differenziert zu betrachten. Was ist dann der richtige Umgang mit der AfD und ihren Anhängern? Wo ist die Grenze zwischen dem, was ausgehalten werden muss in unserer Gesellschaft, und dem, was nicht?
In einer offenen Gesellschaft müssen alle alles tolerieren, also ertragen, was nicht gegen Gesetze verstößt. Das heißt aber nicht, dass wir auch alles akzeptieren oder respektieren, also achten oder wertschätzen müssten. Ganz im Gegenteil! Der freundlich-feindliche Wettbewerb unterschiedlicher Überzeugungen, die sich gegenseitig nicht akzeptieren, sondern allenfalls tolerieren können, ist ein wesentlicher Motor des gesellschaftlichen Fortschritts.
Das bedeutet in der Praxis ...?
Solange Rechtspopulisten oder Islamisten keine Gesetze verletzen, müssen sie in einer offenen Gesellschaft selbstverständlich toleriert werden. Zugleich aber sollte mit allen Mitteln des zivilisierten Widerstreits daran gearbeitet werden, die Attraktivität ihrer freiheitsfeindlichen Haltungen zu schwächen.
Und wie kann das gehen?
Dazu muss das Fehlerhafte, Irrationale, Inhumane und oft auch genuin Lächerliche ihrer Überzeugungen in schonungsloser Offenheit aufgezeigt werden. Nur auf diese Weise kann man Menschen, die in ideologischen Scheuklappen gefangen sind, den Respekt vor den eigenen Vorurteilen nehmen.
Mit Kritik an Fremdenhass, Islamophobie, Rassismus, Sexismus unter den Anhängern der AfD und von Trump haben Politiker und Medien das versucht. Manche sagen nun selbstkritisch, dadurch hätte man die "Abgehängten" beleidigt. Müsste man diesen nicht mehr Respekt zeigen?
Selbstverständlich sollte allen Menschen mit Respekt begegnet werden, das gebietet die Menschenwürde. Das aber bedeutet keineswegs, dass man auch ihre Überzeugungen und Handlungen respektieren müsste. Schließlich hat vieles, was Menschen denken oder tun, aus einer halbwegs aufgeklärten Sicht keinerlei Respekt verdient. Und das muss man in einer Streitkultur auch klar artikulieren können. Das mag sicherlich schmerzhaft sein und von dem einen oder anderen auch als Beleidigung empfunden werden. Aber das ist nun einmal der Preis, den man als Mitglied einer offenen Gesellschaft zu zahlen hat.
Wir alle müssen damit leben, dass unsere Auffassungen von anderen nicht akzeptiert, sondern als "irrational", "inhuman" oder "gottlos" verworfen werden. Wer nicht in der Lage ist, diese Last zu ertragen, beweist damit nur, dass ihm das für die offene Gesellschaft erforderliche Maß an Toleranz fehlt.
Bei vielen AfD-Anhängern mangelt es offenbar an Toleranz gegenüber Fremden, anderen Religionen oder Homosexuellen. Und bei manchen ihrer Kritiker fehlt die Toleranz gegenüber der anderen Meinung?
Ich bin überzeugt, dass das zentrale Problem, mit dem wir heute zu kämpfen haben, gar nicht in einem Mangel an Toleranz besteht, sondern in einem Übermaß an Ignoranz. Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, dass ein Großteil der Menschen entweder nicht willens oder nicht fähig ist, zwischen Humanem und Inhumanem, Recht und Unrecht, Wahrheit und Propaganda, Vernünftigem und Widersinnigem zu unterscheiden.
Genährt wird dies durch die postmoderne Unterstellung, dass es gar keine Wahrheiten gäbe, über die man sich intersubjektiv verständigen könnte, sondern nur subjektive Meinungen, die man irgendwie tolerieren müsse. Dabei ist es zwar richtig, dass wir in einer offenen Gesellschaft in der Lage sein sollten, viele unterschiedliche Meinungen zu tolerieren. Das heißt jedoch nicht, dass diese Meinungen unter dem Maßstab der Vernunft gleichermaßen zu akzeptieren wären. Und es gibt eine Reihe von Kriterien, mit denen sich rationale Argumente von irrationalen unterscheiden lassen.
Was sind das für Kriterien?
Etwa die interne Widerspruchsfreiheit. Aussagen müssen logisch schlüssig sein. Externe Widerspruchsfreiheit dagegen bedeutet, dass Aussagen einer bekannten, überprüfbaren Faktenlage entsprechen müssen. Außerdem sollte unsere Argumentation nicht willkürlich, also nach subjektivem Belieben, erfolgen. Sie sollte vielmehr rational und unparteilich sein: Die Güte eines Arguments muss unabhängig davon beurteilt werden, wer es äußert. Rational denkende Menschen schert es daher nicht, wenn sie "Beifall von der falschen Seite" bekommen, wie es etwa Islamkritikern mit der AfD gegangen ist.
Dieser "falschen Seite" und manchen Beobachtern muss vielleicht noch deutlicher gemacht werden, dass die Islamkritik kein Pauschalurteil gegenüber Muslimen ist oder stützt. Das scheint nicht immer zu gelingen.
Richtig. Rationales, evidenzbasiertes Denken verlangt natürlich auch eine gewisse Übung. Würde es schon in der Schule gelehrt und später systematisch trainiert, sähe die Debattenkultur in Deutschland deutlich anders aus.
Sie sagten zu Anfang, die Ursache der gegenwärtigen Entwicklung sei auch die soziale Ungleichheit. Anhänger der AfD, von Trump oder dem Front National sagen allerdings häufig, es gehe um kulturelle, religiöse und nationale Identität. Und die Rechtspopulisten sind ja nicht angetreten, um das Geld der Reichen an die Armen zu verteilen.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass ihnen der gesellschaftliche Aufstieg verbaut ist. Leider sind die sozialen Verhältnisse ja auch tatsächlich so erstarrt, dass die Eliten kaum etwas tun müssen, um ihren Status zu erhalten, während die Marginalisierten kaum etwas tun können, um ihren Status zu verbessern.
Das fördert bei den Verlierern des gesellschaftlichen Spiels Aggressionen, die sich aber nicht notwendigerweise gegen "die Eliten" richten müssen, sondern auch auf andere "Verlierergruppen" umgelenkt werden können, etwa auf "die Flüchtlinge". Hiervon profitieren rechtspopulistische Parteien wie die AfD oder der Front National ungemein. Und dagegen hilft nur gezielte Aufklärung.
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Es muss noch sehr viel deutlicher als bisher aufgezeigt werden, dass rechtspopulistische Parteien soziale Ungleichheit nicht aufheben, sondern verschärfen. Zudem sollte den Menschen klargemacht werden, wie gefährlich und unsinnig es ist, Individuen über ihre Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe zu definieren - sei es über eine Kultur, Religion oder Nation. In diesem Zusammenhang würde es sicherlich nicht schaden, wenn ein Bewusstsein dafür geschafft würde, dass zwischen Islamisten und Rechtspopulisten sehr viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen. Beide Gruppen wollen nämlich das Rad der Geschichte zurückdrehen und vormoderne Dogmen an die Stelle individueller Freiheitsrechte setzen. Was man rechten AfD-Christen wie Beatrix von Storch gegenüber Islamisten wie Erdoğan dabei zugutehalten kann, ist, dass sie uns nur in die 1950er Jahre zurückmanövrieren wollen - statt ins Osmanische Reich vor 1924.
Selbst Fakten haben für manche Menschen offenbar keine Überzeugungskraft mehr - Stichwort "postfaktisch". Was lässt sich tun, damit sich das ändert?
Die Bildungssysteme müssen unbedingt verbessert werden, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Kontrafaktische Argumentationen à la Trump und Erdoğan funktionieren ja nur, weil ihren Wählerinnen und Wählern das erforderliche Faktenwissen fehlt. Leider muss man aber feststellen, dass die Bildungssysteme weltweit darin versagen, ihren Schülerinnen und Schülern das existenziell bedeutsame Wissen zu vermitteln, das notwendig wäre, um althergebrachte politische, weltanschauliche oder religiöse Weltbilder infrage zu stellen.
Zumindest im Westen lernen die Schülerinnen und Schüler aber doch viel über Religionen - nicht nur ihre eigene - und politische Systeme und ihre Geschichte.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Omar Mateen, der Attentäter von Orlando, der im Juni 49 Lesben und Schwule erschossen hat. Offenkundig hat er in seiner Schulzeit niemals erfahren, dass Homosexualität im gesamten Tierreich verbreitet ist, also biologisch bedingt und somit "natürlich" ist. Dass gerade der islamisch-arabische Kulturraum eine enorme Fülle an homoerotischer Literatur hervorgebracht hat. Dass Homophobie unter Muslimen erst ab dem 19. Jahrhundert durch die Konfrontation mit christlichen Sittenwächtern entstanden ist. Und dass es bis 1979 kein einziges Todesurteil gegen Schwule in der islamischen Welt gegeben hat.
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Hätte Mateen all dies schon in der Schule erfahren, hätte er sich vielleicht zu seiner eigenen Homo- bzw. Bisexualität bekennen können, statt sich und 49 anderen Menschen im Zuge einer hochgradig psychopathologischen Märtyrertat das Leben zu nehmen.