Wenn der Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ins Haus kommt, laufen viele alte Menschen zuverlässig zur Hochform auf - wer im Alltag zum Beispiel oft Hilfe beim Anziehen braucht, schlüpft mit einem Mal elegant in den Pullover. Man kann nur schätzen, wie viele Angehörige innerlich schon die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, weil die Botschaft an den Prüfer doch eigentlich eine ganz andere sein sollte: zu zeigen, was der Vater oder die Schwiegermutter eben nicht mehr kann, weil das Ergebnis der Begutachtung einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, welche Leistungen jemand aus der Pflegeversicherung bekommt.
Mehr als ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass die Bundesregierung die Begutachtung von Pflegebedürftigen radikal umgekrempelt hat - was gewiss nichts daran ändert, dass sich viele Senioren am Tag der Prüfung plötzlich von ihrer besten Seite zeigen. Während die MDK-Gutachter früher vor allem auf die Defizite schauen sollten, sind sie nun angehalten, die Selbständigkeit der Antragsteller einzuschätzen. Auch die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung haben sich stark verändert: Statt der drei Pflegestufen gibt es seit dem 1. Januar fünf sogenannte Pflegegrade. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) verwies stets darauf, dass von seiner Reform vor allem Demenzkranke profitierten - weil geistige Einschränkungen im neuen System nun gleichberechtigt neben körperlichen Leiden stehen würden. Eine halbe Million Menschen sollen in den kommenden Jahren erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten können, da sie im alten System aus dem Raster gefallen seien. Dafür hat die Regierung die Beiträge angehoben.
Ziel ist es, dass Kranke so lange wie möglich zu Hause betreut werden
Auf den ersten Blick scheinen sich einige Vorhersagen zur Reform zu bewahrheiten. In den ersten sechs Monaten haben die MDK-Prüfer fast 442 000 Erstanträge bearbeitet. In vier von fünf Fällen stellten sie eine Pflegebedürftigkeit fest, der Antragsteller wurde also einem der fünf Pflegegrade zugeordnet. Knapp 87 000 Personen - fast 20 Prozent - erhielten einen abschlägigen Bescheid. Im gesamten Jahr 2016, als noch das alte System in Kraft war, lag die Quote der Ablehnungen deutlich höher, bei 31 Prozent. "Insgesamt erhalten nun mehr Menschen Leistungen. Wir erreichen sie in einem früheren Stadium der Pflegebedürftigkeit", sagt Bernhard Fleer, der beim Spitzenverband der Medizinischen Dienste der Krankenkassen für Pflegebegutachtungen zuständig ist. So wurde im ersten Halbjahr 2017 jeder Vierte, der einen Erstantrag gestellt hatte, dem neuen Pflegegrad 1 zugeordnet, für den es im alten System keine Entsprechung gab. Etwa 110 000 Personen mit leichten Einschränkungen bekommen nun erstmals Geld.
Das alles schlägt sich auch in den Zahlen der Pflegekassen nieder. Die Ausgaben für Pflege steigen ohnehin von Jahr zu Jahr, doch diesmal - infolge der Reform - besonders stark. Die Techniker Krankenkasse (TK) gab zwischen Januar und Juli dieses Jahres 32 Prozent mehr Geld für ihre pflegebedürftigen Versicherten aus als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zuvor lag das Plus in diesen Monaten bei 13 Prozent. Mit der Reform wollte Gesundheitsminister Gröhe schließlich auch erreichen, dass die Alten und Kranken so lange wie möglich zu Hause betreut werden - und erst dann ins teure Pflegeheim kommen, wenn es nicht mehr anders geht. Dazu passt, dass die TK nun deutlich mehr Geld für ambulante Pflege ausgibt, das Plus beim Pflegegeld liegt derzeit bei 54 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Für die Unterbringung in Pflegeheimen zahlt die Kasse 29 Prozent mehr als zuletzt. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen, dort stiegen die Ausgaben im ersten Quartal um 21 Prozent. Bei den Geldleistungen war das Plus mit 42 Prozent überdurchschnittlich, die Kosten für die stationäre Pflege stiegen mit 18 Prozent weniger stark. Ein ähnliches Bild zeigen die Zahlen der Pflegekasse DAK. Die Reform "erweitert die Möglichkeiten der häuslichen Pflege", sagt der Chef der Barmer, Christoph Straub. "Davon profitieren Hunderttausende."
Die Grünen kritisieren die Neuregelung als "Schaufensterreform"
Zufrieden sind damit jedoch längst nicht alle. Von einer "Schaufensterreform" spricht die pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Elisabeth Scharfenberg. Die Regierung habe den Pflegebedürftigen zwar mehr Leistungen versprochen, doch die Pfleger und Betreuungskräfte außen vor gelassen. So fehle es schon heute am nötigen Personal, um die gesetzlichen Ansprüche der Senioren umzusetzen. "Gerade bei Demenzkranken ist mehr als nur die Grundpflege gefragt. Da braucht man auch Sozialpädagogen und Ergotherapeuten", sagt Scharfenberg. Auch Pia Zimmermann, die pflegepolitische Sprecherin der Linken, kritisiert die Reform. Zwar erhielten einige Senioren nun mehr Leistungen. Allerdings "wurde das Geld anderen weggenommen", sagt sie. So müssen Senioren mit einem niedrigen Pflegegrad im neuen System deutlich mehr zuzahlen, wenn sie in einem Pflegeheim leben, als Versicherte, die noch nach den alten Regeln eingestuft wurden. "Zudem hat es die Regierung versäumt, die Pflegeversicherung zur Vollversicherung zu machen", sagt Zimmermann. Die teils hohen Zuzahlungen mache Pflege für viele zu einem "Armutsrisiko".
Kritik kommt auch von mehreren Fachverbänden. Der Sozialverband VdK rügt, dass die Reform "schon viele Verlierer produziert" habe. Gerade für Menschen mit dem niedrigen Pflegegrad 1 fehlten Betreuungsangebote. Die Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbands, Adelheid von Stösser, wendet ein, dass die Reform ein grundlegendes Problem der Pflegeversicherung nicht beseitigt habe. Je unselbständiger ein Bewohner sei, desto mehr Geld gebe es. Dies sei "ein Anreiz, die Alten in die Betten zu pflegen", sagt sie. Stattdessen solle es besser einen Pauschalbetrag von der Pflegekasse geben. Monika Kaus, die Vorsitzende der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, kann der Reform dafür viel Gutes abgewinnen. Demenzkranke würden bei der Einstufung endlich gleichgestellt, sagt sie, allerdings habe der Umbau der Pflegeversicherung den Personalmangel nicht beheben können. "Die Pfleger sind ja meist sehr engagiert, doch ihre Ressourcen reichen oft einfach nicht aus", sagt Kaus.