Etwa 2,8 Millionen Menschen in Deutschland können ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen. Sie müssen im Heim oder ambulant zu Hause versorgt werden und erhalten dafür Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Sie wurde 1995 eingeführt und seitdem immer wieder modernisiert - doch keine Reform war so umfangreich wie jene, die am 1. Januar in Kraft getreten ist. Unter anderem verändert die Bundesregierung die Definition, wann jemand pflegebedürftig ist. Und das alte System der Pflegestufen wird abgeschafft und durch fünf sogenannte Pflegegrade ersetzt. Die Süddeutsche Zeitung sprach mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) über die Reform.
Herr Gröhe, Sie krempeln die Pflegeversicherung gerade gründlich um. Was ändert sich für Betroffene?
Hermann Gröhe: Das ist in der Tat ein wirklicher Kraftakt, ein umfassender Umbau der Pflegeversicherung. Damit erhalten 1,6 Millionen Demenzkranke in Deutschland endlich gleichberechtigten Zugang zu allen Leistungen. Und beim Begutachtungsverfahren wird nicht mehr länger nur geschaut, welche körperlichen Beeinträchtigungen jemand hat und wie viele Minuten an Pflege er dafür rechnerisch braucht. Die Gutachter blicken von jetzt an verstärkt auf die Fähigkeiten der Menschen und damit auch darauf, wie jemand möglichst lange selbständig leben kann. Es geht nicht mehr nur darum, was ein Pflegebedürftiger körperlich nicht mehr schafft.
Was haben die Pflegebedürftigen konkret davon?
Für viele setzen die Leistungen der Pflegeversicherung damit deutlich früher ein als heute. Ihnen wird schon am Beginn einer Pflegebedürftigkeit besser geholfen, damit ihre Selbständigkeit erhalten bleibt - etwa durch einen altersgerechten Umbau der Wohnung. Anstatt der alten drei Pflegestufen gibt es von jetzt an fünf Pflegegrade. Mit der neuen Begutachtung kann der Hilfebedarf besser erfasst werden als im alten System. Und wir stärken den Grundsatz "Reha vor Pflege". So können wir den Verlauf einer Pflegebedürftigkeit früh günstig beeinflussen.
Sie sprachen Demenzkranke an. Diese waren doch auch im alten System nicht außen vor. Wo ist da der Unterschied?
Wir haben demenziell Erkrankte in der Vergangenheit schon schrittweise bessergestellt. Das war aber immer nur eine Ergänzung, eine Art Hilfskonstruktion. Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) wurde insbesondere der Betreuungsbedarf, der durch eine Demenz entsteht, nicht ausreichend abgebildet. Deshalb haben wir das Begutachtungssystem grundlegend geändert.
Was bedeutet die Reform für alle, die schon vorher pflegebedürftig waren? Müssen die sich Sorgen machen?
Niemand muss sich Sorgen machen. Die allermeisten werden deutlich verbesserte Leistungen erhalten. Es wird niemand schlechtergestellt, dafür gibt es einen Bestandsschutz. Die Überleitung vom alten System der Pflegestufen in die Pflegegrade erfolgt automatisch, ohne dass die Pflegebedürftigen etwas dafür tun müssen. Wer zum Beispiel bisher Pflegestufe zwei hatte, bekommt automatisch den neuen Pflegegrad 3, bei zusätzlicher Demenz Pflegegrad 4. Es wäre nicht sinnvoll, deswegen 2,8 Millionen Menschen komplett neu begutachten zu lassen. Das würde in viele Familien nur Unruhe bringen und ihnen Sorgen bereiten.
Wer mit einer eher geringen Beeinträchtigung ins Pflegeheim muss, bekommt im neuen System weniger Geld als im alten. Sind die Pflegebedürftigen von morgen also die Verlierer Ihrer Reform?
Nein. Für alle, die in Zukunft erstmals pflegebedürftig werden, gilt ja, dass die Hilfe deutlich früher einsetzt als derzeit. Über den gesamten Verlauf der Pflegebedürftigkeit werden die Leistungen daher in aller Regel mindestens so hoch sein wie heute. Dazu kommt, dass der pflegebedingte Eigenanteil im Pflegeheim mit zunehmendem Hilfebedarf jetzt nicht mehr steigt. Er bleibt stattdessen nun über alle Pflegegrade gleich. Das entlastet die Betroffenen erheblich.
Das erzeugt finanziell gesehen Verlierer bei den weniger stark Beeinträchtigten und Gewinner bei den schwer Pflegebedürftigen.
Das stimmt so nicht. Alle Pflegebedürftigen bekommen die Leistungen, die sie brauchen. Die steigenden Eigenanteile haben in der Vergangenheit vor allem dazu geführt, dass sich Pflegebedürftige nicht neu begutachten lassen wollten, auch wenn es ihnen viel schlechter ging - aus Angst, die höheren Eigenanteile dann nicht mehr bezahlen zu können. Wenn die Einstufung nicht dem tatsächlichen Bedarf an Zuwendung entspricht, ist das ein Problem - nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Heime im Hinblick auf eine angemessene Berechnung des Personalbedarfs. Davor bewahren wir die Menschen künftig mit der Reform.
Ihre Reform kostet fünf Milliarden Euro pro Jahr, dafür haben Sie die Beiträge zur Pflegeversicherung in zwei Stufen um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben.
Durch die Reform stehen fünf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr für die Leistungsverbesserungen zur Verfügung. Hinzu kommen 1,2 Milliarden Euro, die in einen Vorsorgefonds fließen. Der greift ab 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgänge voraussichtlich vermehrt Pflegeleistungen in Anspruch nehmen. Es freut mich, dass die Erhöhung der Beiträge ganz offenkundig von den allermeisten Menschen in unserem Land akzeptiert wird. Das zeigt ein hohes Maß an Solidarität. Und es bestätigt: Pflege ist ein Thema, das jeden angeht.
Trotz des Fonds werden steigende Beiträge eines Tages unvermeidlich sein. Wie lange bleibt der Beitrag nun erst einmal stabil?
Wir haben im Gesetz solide gerechnet und gehen auf heutiger Basis davon aus, dass die Beiträge bis zum Jahr 2022 stabil bleiben.
Die Gesellschaft altert immer stärker. Wird in 40 oder 50 Jahren überhaupt noch eine menschenwürdige Pflege der Alten und Kranken möglich sein?
Ich bin mir ganz sicher, dass unsere Gesellschaft das stemmen kann. Es geht dabei um gelebte Mitmenschlichkeit und die richtigen Prioritäten. Zugleich müssen wir weiterhin alles dafür tun, damit auch Hochbetagte ihre Selbständigkeit behalten und eine Pflegebedürftigkeit so weit wie möglich hinausgezögert wird. Schließlich müssen die Beitragszahler vor zu hohen finanziellen Belastungen geschützt werden. Deshalb ist es richtig, dass die Pflegeversicherung eine Teilabsicherung ist. Für viele Versicherte kann eine ergänzende private Pflegeversicherung sinnvoll sein, die auch vom Staat finanziell gefördert wird.
Nun ist Pflege nicht nur eine Frage der Zahlen, sondern auch der Menschen. An denen fehlt es bereits heute, viele halten den Beruf des Altenpflegers für nicht attraktiv genug. Was wollen Sie dagegen tun?
Vieles haben wir ja schon getan. Noch nie waren so viele Menschen in der Altenpflege beschäftigt wie heute, und auch die Ausbildungszahlen sind so hoch wie nie. Etwa 20 000 Betreuungskräfte mehr als im Jahr 2013 entlasten die Pflegekräfte heute zusätzlich, und wir unterstützen die Bezahlung nach Tarif. Zudem mussten durch die Pflegereform zum 1. Januar 2017 die Personalschlüssel in den Pflegeheimen überprüft werden, das hat in immerhin elf Bundesländern schon zu Verbesserungen geführt. Bis 2020 wird nun ein wissenschaftlich abgesichertes Verfahren entwickelt und erprobt, mit dem besser bestimmt werden kann, wie viel Personal es in einem Pflegeheim geben muss. Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass Pflegekräfte mehr Zeit für die Pflegebedürftigen haben und weniger Zeit damit verbringen müssen, ihre Arbeit zu dokumentieren. Und wir setzen uns für eine moderne Pflegeausbildung ein.
Bei der Reform der Pflegeberufe hakt es aber gerade ganz gewaltig, Ihr Gesetz steckt mittlerweile seit Monaten im Bundestag fest.
Dass das Parlament einen solchen Schritt gründlich diskutiert, ist klar. Ich bin von den Zielen des Gesetzes überzeugt. Wir brauchen eine zeitgemäße Ausbildung für unsere Pflegekräfte. Und es ist auch nicht länger hinnehmbar, dass Auszubildende der Altenpflege in einigen Bundesländern Schulgeld zahlen müssen - das wollen wir mit dem Gesetz abschaffen.
Neun Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl. Was gibt es für Sie bei der Pflege in dieser Zeit noch zu tun?
Wir haben in der Gesundheitspolitik insgesamt ja noch eine ganze Reihe von Projekten, zum Beispiel den Masterplan Medizinstudium, die Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung, das G-20-Gesundheitsminister-Treffen, bei dem es um die Stärkung des internationalen Gesundheitsschutzes geht. Was die Pflege betrifft, so müssen wir jetzt natürlich schauen, dass diese große Reform von allen Beteiligten gemeinsam richtig umgesetzt wird. Nur weil das Gesetz jetzt in Kraft getreten ist, hört die Arbeit für uns ja nicht auf.