Süddeutsche Zeitung

Gesundheitspolitik:Pflege-TÜV in der Kritik: "Das ist Realsatire"

Lesezeit: 3 min

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Ein Unfall, ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall - und schon ist der Mensch, der eben noch mitten im Leben stand, ein Pflegefall. Wenn jemand nicht mehr zu Hause leben und dort gepflegt werden kann, stellen sich sofort Fragen: Welche Hilfe ist in Pflegeheimen zu erwarten? Arbeiten dort genügend Pflegekräfte, sind sie hinreichend ausgebildet?

Um das zu beantworten, sollte der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) die Standards in den Heimen prüfen. 2009 wurde der Pflege-TÜV eingeführt, um künftigen Heimbewohnern und Angehörigen mit einem Prüfsiegel verlässliche Orientierung durch den Pflege-Dschungel zu bieten. Die Bilanz: Die fast 14 500 Heime erhielten durchweg beste Bewertungen: Schulnote 1,2 im Durchschnitt, deutschlandweit. "Leider war der bisherige Pflege-TÜV eine Farce", erkannte auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Was ist schiefgelaufen?

Schon bald nach seiner Einführung stellte sich heraus, dass das Prüfwerkzeug nicht funktionierte. Kriterien wie schlechte Haut- oder Wundpflege etwa, ein existenzielles Problem in der Pflege, weil dadurch sogar das Leben des Patienten gefährdet sein kann, konnten in der Bewertung ausgeglichen werden durch andere Kriterien. Darunter schöne Parkanlagen oder "schriftliche Verfahrensanweisungen zu Erster Hilfe" im Haus. So kamen die Bestnoten zustande.

2014 wurde erstmals nachgebessert - ohne Erfolg. 2015 erhielten Heimbetreiber und Kassen von der Politik die Auflage, ein neues Prüfverfahren zu entwickeln. Es dauerte Jahre, bis ein 600-Seiten-Bericht vorlag. Kritiker bemängelten schon damals, die Vorschläge seien viel zu kompliziert für alle Beteiligten. Trotzdem wurde auf dieser Grundlage nun der neue Pflege-TÜV entwickelt.

Es fehlt weiterhin an Transparenz, kritisieren Patientenschützer

Das Ergebnis: Es gibt keine Noten mehr, dafür Kreise, Drei- und Vierecke, versehen mit Zahlen. Sie sollen anzeigen, in welchen Bereichen sich ein Heim über- oder unterhalb des bundesweiten Prüf-Durchschnitts befindet. Wie viele Pflegekräfte beschäftigt oder wie diese ausgebildet sind, fehlt weiter als Bewertungskriterium. Obwohl gerade das für die Pflegequalität ausschlaggebend wäre.

Für Kunden ist das Durchschauen der Bewertung noch komplizierter geworden, kritisiert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Es fehle außerdem weiterhin an Transparenz. Damit eigne sich der neue TÜV im Bedarfsfall kaum als schnelle und eindeutige Entscheidungshilfe. Gravierende Mängel wie eine schlechte Hautversorgung würden weiterhin nicht dazu führen, dass ein Heim geschlossen wird.

Ein Problem, das ebenfalls nicht beseitigt wurde: Die Heime prüfen sich weiter selbst. Nicht nur die Prüfkriterien werden von den Heimen seit jeher selbst mit den Kassen ausgehandelt. Die "Pflegeselbstverwaltung" wurde sogar noch verschärft: Die Einrichtungen geben die Bewertungen der mühsam erstellten Prüfkriterien nun selbst alle halbe Jahre ab. Einmal im Jahr kommt dann der MDK und soll nachvollziehen, ob die Angaben der Wahrheit entsprechen. Dazu soll er - und das ist neu - mit neun Bewohnern pro Heim sprechen. Wenn die Prüfer den Eindruck gewinnen, dass die Selbsteinschätzung zutrifft, kommt der MDK nur noch alle zwei Jahre.

Der neue Pflege-TÜV soll nur die Heime prüfen. Für die 14 000 ambulanten Pflegedienste muss erst noch ein neuer TÜV erarbeitet werden. Dabei mehren sich gerade auf diesem Feld die Betrugsfälle, von jährlich bis zu zwei Milliarden Euro Abrechnungsbetrug ist die Rede. Vor allem das Geschäft der Intensivpflegedienste bedarf der Kontrolle, denn es ist so lukrativ (bis zu 30 000 Euro pro Patient und Monat) wie gefährlich. Gerade die Intensivpatienten sind besonders verwundbar.

Im November 2019 soll der neue Pflege-TÜV starten, Ende 2020 sollen alle Heime neu geprüft sein. Deutschlands oberster Pflegekritiker Claus Fussek würde das Projekt, das die Versicherten 100 Millionen Euro pro Jahr kostet, lieber umgehend beerdigen. Sonst müssten die ohnehin überlasteten Pflegekräfte jetzt auch noch für die neuen Prüfungen lernen. In der Praxis bedeute das: Sie müssten in dieser Zeit die Patienten liegen lassen und sie anschließend für die Prüfung befragen, wie es ihnen geht. "Das ist Realsatire", sagt Fussek. "Die Pflegekräfte sollten sich jetzt dagegen wehren und diese unsinnige Beschäftigungstherapie für die Pflegebranche stoppen."

Der neue TÜV bewirke bei viel Aufwand keine Verbesserungen in der Pflege. Und Angehörige hätten bei der Auswahl sowieso "keine Wahl": "Die guten Heime haben lange Wartelisten", so Fussek. Anderswo würden aufgrund des Pflegenotstandes vermehrt Aufnahmestopps verhängt, ganze Stationen stünden leer.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2019
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