Pflegeberufe:Warum kämpft ihr nicht?

Pflegeberufe: Auch das Berufsethos hält Pflegekräfte vom Boykott des Arbeitsplatzes ab: Wer soll sich denn dann um die Kranken und Alten kümmern?

Auch das Berufsethos hält Pflegekräfte vom Boykott des Arbeitsplatzes ab: Wer soll sich denn dann um die Kranken und Alten kümmern?

(Foto: Christoph Schmidt/DPA)

Arbeit im Akkord, vernachlässigte Patienten: In der Pflege herrschen elende Jobbedingungen - trotzdem wird kaum gestreikt, haben Gewerkschaften wenig Zulauf. Wie sich die Branche selbst im Weg steht.

Von Benedikt Peters und Rainer Stadler

Vor zwölf Jahren fasste Jens Gotthardt den Entschluss, zu kämpfen. Er wusste, wie unzufrieden die Kollegen waren, er selbst war es auch. In einem Seniorenheim in der Oberpfalz hangelte sich der Altenpfleger von einem befristeten Vertrag zum nächsten, machte Überstunden, sah zu, wie seine freien Wochenenden zusammenschrumpften, weil er oft für Kolleginnen und Kollegen einspringen musste. Dann kam die Betriebsratswahl. Gotthardt trat an, gewann. Dann versuchte er, etwas zu verändern.

40 Jahre alt ist Gotthardt inzwischen. Seitdem er 17 ist, arbeitet er als Altenpfleger, mit 26 wechselte er in ein Heim der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Weiden. Er ist ein Mann, der mit ruhiger Stimme spricht und der auch mal lachen kann - obwohl er in all den Jahren auch bitter hätte werden können. "Schwierig", "gescheitert", "nicht funktioniert", solche Worte fallen immer wieder, wenn er über seine Arbeit als Betriebsrat spricht.

Mit dieser Erfahrung ist er nicht allein. Gewerkschaften und Betriebsräte tun sich traditionell schwer, etwas in der Pflege zu bewegen. Dabei ist der Leidensdruck in kaum einer Branche größer. Beschäftigte klagen über verheerende Arbeitsbedingungen, für Zuwendung und Empathie bleibe im Alltag der Akkordpflege kaum Zeit. Die Folge: Alte Menschen in Heimen verwahrlosen, weil sich niemand um sie kümmert, in den Kliniken gefährdet die Personalnot das Leben von Patienten.

Alle wissen von dem Elend. Der Pflegenotstand wurde oft beschrieben, in Tausenden Studien und Fachartikeln, mit Medienberichten über Missstände in Einrichtungen lassen sich Regalreihen füllen. Aber nur ganz selten haben die prekären Zustände dazu geführt, dass die Beschäftigten ihre Arbeit niederlegen, um aufzubegehren.

Ein ganzer Berufszweig in Ohnmacht?

Warum ergibt sich scheinbar ein ganzer Berufszweig, an dessen Relevanz für das Gemeinwesen spätestens seit Corona niemand mehr zweifelt, in Ohnmacht und Fatalismus? Warum bündeln die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken und Altenheimen nicht ihre Kräfte, um die Macht auszuspielen, die sie eigentlich hätten? Tatsächlich sind kaum zehn Prozent der Pflegekräfte in einer Gewerkschaft.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Viele Beschäftigte in der Pflege sind für Verdi, die Dienstleistungsgewerkschaft, nur schwer zu erreichen: Beschäftigte, die zum Teil erst seit Kurzem in Deutschland sind und kaum die Sprache beherrschen. Teilzeitkräfte, deren Bereitschaft, sich zu organisieren, generell geringer ist. Belegschaften von Diakonie oder Caritas - immer noch vermitteln kirchliche Träger ihren Beschäftigten, sie dürften keiner Gewerkschaft beitreten. Streiken darf das kirchliche Personal auch nicht.

Sylvia Bühler, im Bundesvorstand von Verdi für Gesundheit und Soziales zuständig, hat zudem im Gesundheitswesen eine verbreitete Haltung bei den Beschäftigten ausgemacht. Sie lautet: "Wir machen etwas gesellschaftlich so Wichtiges, da müssen doch die Politiker und der Staat dafür sorgen, dass wir gute Rahmenbedingungen haben." Vielen sei nicht klar, dass Bezahlung und Arbeitsbedingungen "auch etwas mit ihrer eigenen Kraft und Durchsetzungsfähigkeit zu tun haben".

Aber auch das Berufsethos in Pflege- und Gesundheitsberufen erschwert den Arbeitskampf. Bei einem Streik stünden eben "nicht nur Maschinen oder Busse" still, sagt Bühler. "Es geht in diesen Berufen oft um existenzielle Not", und wenn die Beschäftigten die Arbeit niederlegen, "leiden darunter Menschen, die nicht versorgt werden". Um Pflegerinnen und Pfleger aus ihren Gewissensnöten zu befreien, vereinbaren Gewerkschaften inzwischen vor einem Streik Notdienstvereinbarungen mit Arbeitgebern. Das beinhaltet auch, Betten und Stationen stillzulegen. So kann wenigstens ein Teil des Personals sein Streikrecht wahrnehmen. Das sei zwar nicht schön für die Allgemeinheit, "aber die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sind ist es halt auch nicht", sagt Bühler. Sie weiß allerdings, dass sich dieses Vorgehen nicht auf die Altenpflege übertragen lässt.

Mangelt es an Streitlust, weil Pflege ein Frauenberuf ist?

Der Oberpfälzer Betriebsrat Jens Gotthardt erinnert sich noch gut an das Jahr 2010; viele Pflegeheimbetreiber waren damals, kurz nach der Finanzkrise, in Schwierigkeiten geraten. Es wurde gemunkelt, dass die Beschäftigten auf das Weihnachtsgeld verzichten sollten, Verdi verhandelte mit den Arbeitgebern über einen Notlagentarifvertrag.

Gotthardt wollte damals ein Zeichen setzen, um seiner Gewerkschaft für die Verhandlungen den Rücken zu stärken: eine kurze Aktion auf der Straße, sie hätte vielleicht eine Stunde gedauert. Aber die Kolleginnen und Kollegen, sagt er, hätten nicht mitgezogen. Als er versuchte, sie zu mobilisieren, habe er immer die gleichen Sätze gehört: "Wir können doch unsere Bewohner nicht alleine lassen." Oder: "Wer versorgt die Senioren?" Und: "Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren." Am Ende, sagt Gotthardt, wäre sein Streikkomitee mit fünf von etwa hundert Mitarbeitern vor dem Altenheim gestanden. "Da haben wir die Aktion lieber abgeblasen."

Manche begründen den Mangel an Streitlust in der Pflege damit, dass es in erster Linie ein Frauenberuf sei. Ein Irrtum. Auch im Handel arbeiten viele Frauen. Trotzdem hat Verdi dort kaum Schwierigkeiten, einen Arbeitskampf auf die Beine zu stellen. In der Pflege herrschen eben andere Gesetze, das mussten auch die Gewerkschaften lernen.

Beispiel Leiharbeit: In praktisch allen anderen Branchen lehnt Verdi die Anstellung von Personal in Fremdfirmen ab, weil sie allzu oft mit Lohndumping verbunden ist. In der Pflege dagegen verdienen Leiharbeitskräfte meist mehr als die Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen. Und sie können rasch wechseln, in eine andere Klinik, ein anderes Heim, wenn sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sind. Das sorgt zunehmend für böses Blut in der Branche, trotzdem mischt sich die Gewerkschaft nicht ein. Warum auch, wenn zumindest ein Teil der Pflegekräfte so bessere Konditionen für sich herausholen kann?

Ein Flächentarif scheiterte an der katholischen Kirche

Eine weitere Besonderheit der Pflege: die Zersplitterung der Branche in unzählige Interessengruppen und Verbände. Dieser Umstand sowie die Privatisierung des Gesundheitswesens Anfang der Neunzigerjahre haben einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Branche verhindert, der letzte große Anlauf scheiterte 2021 am Nein der katholischen Kirche. Das hat zur Konsequenz, dass Verdi oft mit jedem Heim und jedem Krankenhaus einzeln verhandeln muss, erklärt Bühler. Nicht selten brauche es wochenlange Auseinandersetzungen, damit Arbeitgeber überhaupt an den Verhandlungstisch kommen. Deshalb fehlt bei den Protesten oft die Schlagkraft, die Gewerkschaften mit bundesweiten Aktionen ausüben können.

Betriebsrat Gotthardt sagt, trotz der schwierigen Umstände habe er in den vergangenen Jahren einiges durchsetzen können: Dienstpläne werden nun einen Monat im Voraus veröffentlicht, damit die Leute sich rechtzeitig auf ihre Schichten einstellen können. Es gibt nicht mehr so viele befristete Verträge wie früher. Aber Gotthardt glaubt, dass noch viel mehr drin gewesen wäre.

Immer wieder hat er versucht, die Kollegen zu ermuntern, zu Warnstreiks, aktiven Mittagspausen, was man eben so tut, um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen. Aber die Kollegen, sagt Gotthardt, hätten fast immer abgewinkt. "Auf der Straße war ich mit der Awo in den ganzen Jahren genau zwei Mal. Einmal mit den Azubis, weil die früher Schulgeld zahlen mussten. Und dann noch mal 2013. Aber da haben kaum Altenpfleger gestreikt, sondern fast nur Leute aus der Hauswirtschaft, der Reinigung und der Verwaltung."

Dabei wäre auch das ein Weg für die Pflege: sich mit den Kolleginnen und Kollegen aus allen anderen Berufsgruppen in den Einrichtungen zu verbünden. Schließlich sitzen alle im selben Boot. Beim Streik in den Universitätskliniken Nordrhein-Westfalens hat das sehr gut funktioniert. Die Arbeitgeber stimmten nach wochenlangen Protesten weitreichenden Entlastungen zu, weil sie erkannten, dass die Zustände in ihren Häusern für das gesamte Personal unerträglich waren. Verdi habe in dieser Zeit mehr als 2300 neue Mitglieder gewonnen, "der Großteil davon aus der Pflege und ganz viele junge Beschäftigte", sagt Bühler. Ob sich Pflegekräfte in anderen Einrichtungen daran ein Beispiel nehmen?

Gotthardt wird das nicht mehr betreffen, er hat nach zwölf Jahren Kampf und Überforderung resigniert. Das ewige Einspringen, die vielen Schichten, irgendwann wurde es ihm zu viel. "Ich kann mir einfach nicht vorstellen, unter diesen Bedingungen bis zur Rente zu arbeiten", sagt er. Im vergangenen Winter hat er gekündigt - weil er daran gescheitert ist, etwas zu verändern. Anders als die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen, die dem Beruf Jahr für Jahr den Rücken kehren, hat er es zumindest versucht.

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