Gesundheitspolitik:Lauterbach: Kosten für Pflege werden steigen "wie nie zuvor"

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Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Anfang Mai bei der Eröffnung des Deutschen Ärztetages. (Foto: Lando Hass/dpa)

In einem Interview schlägt der Gesundheitsminister Alarm und fordert eine Bürgerversicherung in der Pflege. Seine Zahlen sehen Experten allerdings kritisch.

Von Vivien Götz

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht das System der Pflegeversicherung immer stärker unter Druck und verlangt bei einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) umstrittene Gegenmaßnahmen. Der demografische Wandel und die große Zahl fehlender Fachkräfte brächten das System zunehmend an seine Grenzen, sagt er.

Lauterbach fordert daher vor allem eine andere Finanzierung. Im deutschen Pflegesystem sei vieles jetzt schon auf Kante genäht: "So darf das nicht bleiben." Thomas Fischer, Professor für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Altenpflege an der Evangelischen Hochschule in Dresden, stimmt Lauterbach zu: "Die Ressourcen, die wir aktuell im System haben, reichen nicht für gute Pflege", sagt Fischer. Die alarmierenden Zahlen, die der Minister im RND-Gespräch genannt hat, stellt er allerdings infrage.

"Explosionsartiger Anstieg" fraglich

Lauterbach spricht von einem "geradezu explosionsartigen" Anstieg der Pflegebedürftigen. 2023 habe man demografisch bedingt mit fünfzigtausend neuen Pflegebedürftigen gerechnet. Zahlen der privaten und staatlichen Pflegekassen zeigten aber einen Zuwachs von mehr als 360 000 Pflegebedürftigen, sagt er dem RND. Fischer kann nicht nachvollziehen, warum Lauterbachs Ministerium lediglich mit so wenigen neuen Pflegebedürftigen gerechnet hat. "Dass die Zahl der Pflegebedürftigen nur um 50 000 Menschen steigt, das hatten wir schon seit zehn Jahren nicht mehr", sagt der Experte.

Ein Blick auf die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes, das alle zwei Jahre Zahlen veröffentlicht, zeigt: So ungewöhnlich ist der Anstieg wirklich nicht. Allein von 2019 auf 2021 stieg die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland um mehr als 800 000 Menschen auf 4,96 Millionen. Ein Anstieg um 360 000 Pflegebedürftige im Jahr 2023 gleicht eher einer Fortsetzung dieser Entwicklung und weniger einer Explosion. Tatsächlich hat auch das Statistische Bundesamt, auf dessen interne Berechnungen sich Lauterbach beruft, für 2023 einen Anstieg der Pflegebedürftigen um 200 000 Menschen vorausberechnet.

Für den Dresdner Professor Fischer ist die Entwicklung der Pflegebedürftigen zwar wenig überraschend, die Situation sei deshalb aber nicht weniger dramatisch. "Das Pflegesystem ist schon lange an seinen Grenzen, wenn nicht sogar darüber", sagt er. Dass jetzt über Reformen nachgedacht werde, sei überfällig. In der Vergangenheit habe man das Problem stets von Legislatur zu Legislatur verschoben.

Bürgerversicherung soll wieder Thema werden

Lauterbach will deshalb erneut über eine Pflege-Bürgerversicherung diskutieren. "Wir kommen in eine Phase, in der die Kosten durch die Demografie so stark steigen werden wie nie zuvor. Erstmals stellt sich die Frage, wie lange die Pflege­versicherung überhaupt noch bezahlbar bleibt", sagt er. Angesichts dieser Situation sei es nicht zu rechtfertigen, "dass sich Gutverdiener und Beamte nicht an der solidarischen Finanzierung der Pflege beteiligen, weil sie sich privat absichern können".

Im Gespräch mit dem RND fordert Lauterbach außerdem höhere Steuerzuschüsse für die Rentenbeiträge pflegender Angehörigen und deutet an, dass es in der Koalition Uneinigkeiten über eine Finanzreform der Pflege gibt. Eine Arbeitsgruppe aus mehreren Ministerien wolle ihre "unterschiedlichen Lösungsvorschläge" demnächst "neutral und fair nebeneinanderstellen".

Mehr Geld allein könne die Probleme des maroden Pflegesystems aber nicht lösen, sagt Thomas Fischer. "Wir brauchen mehr qualifiziertes Personal. Aber das ist nicht vorhanden. Dieses Problem haben wir trotz aller Bemühungen noch nicht gelöst", kritisiert der Experte. Zudem werde das Thema Pflege in Deutschland mit einem zu starken Fokus auf die akute Pflegephase am Ende des Lebens geführt. Pflegeprävention sei kein Thema.

"Wir könnten schon viel früher ansetzen, um den Menschen eine möglichst lange Selbstbestimmtheit zu ermöglichen", sagt Fischer. Demenz, Vereinsamung, Herzkreislauferkrankungen und Diabetes seien Treiber von Pflegebedürftigkeit. Wenn gesamtgesellschaftlich mehr in die Prävention dieser Faktoren investiert werde, könnte das Pflegesystem massiv entlastet werden, erläutert Fischer. "Dieses Potenzial heben wir aktuell überhaupt nicht", sagt er.

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