Überall auf der Welt wenden sich die Menschen von den großen Kirchen ab. Doch während die Europäer den Gottesdienstbesuch gegen einen säkularisierten und individualisierten Lebensstil tauschen, lieber ins Fitnessstudio gehen oder zum Yogakurs, strömen die Menschen in anderen Regionen der Welt in pfingstkirchliche und evangelikale Gemeinden. Diese treten zunehmend als politische Akteure auf, so ein Fazit einer Tagung mit Teilnehmern aus 40 Ländern des Instituts für Weltkirche und Mission der Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
"Seit geraumer Zeit sehen wir die Entwicklung, dass pentekostale Gemeinschaften nicht nur zu missionarischen Zielen die Öffentlichkeit suchen, sondern sich bemühen, die Politik aktiv zu beeinflussen", sagt der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, der zugleich Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz ist. "Ohne Bedenken gegenüber einer unzulässigen Vermischung von Politik und Religion wird dann Religion oft sehr direkt in die Politik getragen."
Als Beispiel genannt wird Donald Trump, der stark von Evangelikalen unterstützt wurde, aber auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Dieser, eigentlich Katholik, ließ sich 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan in Israel taufen. Einer seiner einflussreichsten Unterstützer ist der evangelikale Fernsehprediger Silas Malafaia. Beide sind sich einig in ihrer Ablehnung von Homosexualität, "Gender-Ideologie" und Abtreibungen.
Gegen Corona mit Gebeten
Auch Nigeria und die Philippinen gelten als Hochburgen des Pentekostalismus - alles Weltregionen, die sich durch prekäre Lebensverhältnisse, instabile staatliche Verfassung und Armut auszeichnen, sagt Pater Markus Luber, Direktor des Instituts für Weltkirche und Mission. "Not lehrt Beten. Dies spielt bei der Anschlussfähigkeit solcher Bewegungen eine große Rolle, es erklärt das Phänomen aber nicht im Ganzen." Pfingstkirchen seien für deren Anhänger keine Notlösung, sie hätten ihre eigene Attraktivität: "Sie sind attraktiv, weil sie den Einzelnen empowern, weil sie die Menschen ergreifen und mitreißen. Das spricht dafür, dass unser europäischer Religionsbegriff geweitet werden muss. Für uns Europäer ist Religion etwas Innerliches, aber sie hat auch ganz andere Facetten. Wir dürfen deshalb nicht vorurteilsbeladen auf diese Entwicklungen schauen."
Religion sei immer ambivalent, sagt Jesuitenpater Luber: "Sie kann das Beste und das Schlimmste hervorbringen." Gerade in der Corona-Pandemie habe sich gezeigt, dass Staatsführer, die unter stark pfingstlich-religiösem Einfluss stehen, die Position vertreten hätten, man müsse sich nicht gegen das Virus schützen, man könne dem im Gebet entgegentreten. "Hier wird die Verbindung von Glaube und Vernunft einseitig aufgelöst, dann wird Religion instrumentalisiert und dann wird es gefährlich."
"Wo ist die Grenze legitimer Einflussnahme?", fragt Erzbischof Schick. "Wo gefährdet der Einfluss von Religion das gedeihliche gesellschaftliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Überzeugungen - und was entspricht demgegenüber unserem Auftrag als Christen zur Gesellschaftsgestaltung?"
Die Pfingstbewegung entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA. Das unmittelbare Wirken des Heiligen Geistes steht im Zentrum pfingstlerischer Frömmigkeit - der Name leitet sich vom Pfingstfest ab, der im Neuen Testament berichteten Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger Jesu. Die Pfingstbewegung gilt als die am stärksten wachsende christliche Gemeinschaft mit besonders vielen Anhängern in Lateinamerika, Afrika und Asien. Charakteristisch für Pfingstgemeinden sind besonders emotionale Gebete und Gottesdienste. Der Lehre zufolge äußert sich die Nähe zu Gott auch durch Wunder und Zeichen wie Prophetie oder Heilungen von Kranken. Anhänger der Pfingstgemeinden glauben an eine wörtliche Auslegung der Bibel.