Peter von Oertzen:"Ich bin und bleibe Sozialist"

Peter von Oertzen

Peter von Oertzen (r.) besetzte als Kultusminister von Niedersachsen (1970-74) die Universitäten mit etlichen linken Intellektuellen; konservative Professoren schäumten. Neben ihm Ministerpräsident Alfred Kubel.

(Foto: Sven Simon/SZ Photo)

Philipp Kufferath hat eine beeindruckende Biografie des SPD-Politikers Peter von Oertzen geschrieben. Er zeigt darin, wie man als streitbarer Querdenker und Marx-Versteher Politik machen konnte.

Von Rudolf Walther

Die Lebensdaten Peter von Oertzens (1924 - 2008) sind unspektakulär und deuten auf die Normalität des Lebens eines Politikers hin, der auch Professor war: SPD-Mitglied (1946 - 2005, von 1973 an zwanzig Jahre im Parteivorstand), Politikwissenschaftler und Professor (1963 - 70, 1975 - 82), Landtagsabgeordneter (1955 - 59, 1967 - 82), Kultusminister in Niedersachsen (1970 - 74), wissenschaftlicher und politischer Publizist. Die umfangreiche, detailgenaue Biografie Peter von Oertzens, die aus der Dissertation Philipp Kufferaths hervorgegangen ist, gewinnt aus diesen Daten und dem riesigen Archivmaterial ein faszinierendes Bild des nonkonformistischen Wissenschaftlers und Politikers und beleuchtet die politisch-historischen Kontexte, in denen Oertzen sich bewegte, die ihn prägten und in die er in vielfältiger Weise hineinwirkte.

Wolfgang Abendroth und Jakob Moneta waren seine intellektuellen Mentoren

Väterlicherseits stammte Oertzen aus "der fluchwürdigen Klasse der preußischen Junker", wie der 22-Jährige 1946 schrieb, mütterlicherseits aus einer bildungsbürgerlich-künstlerischen Familie. Sozialdemokratische Einflüsse existierten nicht. Der Vater aus der landlos gewordenen Junkerfamilie unterhielt als Journalist Kontakte zum antidemokratischen, antibürgerlichen und elitären Tat-Kreis aus der Umgebung der Konservativen Revolution. Die Eltern trennten sich, als Peter von Oertzen zehn Jahre alt war. Solange es sich die alleinerziehende Mutter leisten konnte, besuchte der Sohn ein Internat und eine Reformschule in Berlin. Als Gymnasiast geriet er in einen nationalsozialistisch imprägnierten Erziehungsdrill, aus dem der noch nicht ganz 18-Jährige am 21. März 1942 in den Krieg geschickt wurde, in dem sein Vater 1944 umkam und der Sohn zwei Mal verletzt wurde.

Erst im Studium in Göttingen von November 1946 an setzte er sich mit der "Diabolik des entsittlichten Militärstaates" auseinander, trat der streng antikommunistischen Schumacher-SPD und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei, wo er bereits ein Jahr später Landesvorsitzender wurde. Der SDS rügte ihn, weil er das "Volksbegehren für einen Volksentscheid zur deutschen Einheit" unterschrieb, das die SED lanciert und die westlichen Besatzungsmächte verboten hatten. Oertzen legte sein Amt nieder.

Die ehemaligen Kommunisten Erich Gerlach, Eduard Wald und Siegmund Neumann wurden außer Wolfgang Abendroth und dem Trotzkisten Jakob Moneta seine intellektuellen und politischen Mentoren. Durch sie lernte er die Schriften parteipolitisch marginalisierter Sozialisten (Fritz Lamm, Henry Jacoby) und Kommunisten (Karl Korsch, Georg Lukács), aber auch Bücher aus dem Umkreis der Frankfurter Schule und den "Marxismusstudien" von Iring Fetscher und anderen kennen.

In den Jahren, als die Dissertation zur "Sozialen Funktion des staatsrechtlichen Positivismus" (1953) entstand, bildete sich auch Oertzens Marx-Verständnis aus, dem er zeitlebens treu blieb. Er verstand den Marxismus nicht als Dogmensammlung, sondern als Instrument zur politischen Analyse in der praktischen Absicht, strategische Einsichten für die radikale Reform gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen. Dieses theoretisch und historisch fundierte Politikverständnis, das zugleich dem Pragmatismus und der Auslotung politisch-machbarer Spielräume verpflichtet war, wurde zum Markenzeichen des Politikers von Oertzen, der von Jusos und Parteilinken ebenso respektiert wurde wie von Gewerkschaftern und Parteirechten im Seeheimer Kreis und unter den "Kanalarbeitern".

Er wandte sich gegen die Wiederbewaffnung und die Aufrüstung und verärgerte damit die militanten Antikommunisten in der SPD, war aber geschickt genug, sich nicht von der SED und ihren westlichen Vorfeldorganisationen instrumentalisieren zu lassen. Mit dem "Elzer Kreis" baute er ein Netzwerk von linken Sozialdemokraten, linken Gewerkschaftern, Linkssozialisten und kritischen Sozialwissenschaftlern auf, die dem herrschenden Parteiapparat intellektuell und politisch gewachsen waren und bald ein Gegengewicht zu diesem bildeten. Dazu bediente er sich linker Zeitschriften wie der Sozialistischen Politik (1954 - 1960), aber auch der offiziellen Organe der SPD und der Gewerkschaften. Im "Zehnerkreis" traf sich Oertzen mit führenden Gewerkschaftern.

Weil er 1959 gegen das "Godesberger Programm" auftrat, boykottierte die SPD seine wissenschaftliche Karriere, als sie ihm den Zugang zu SPD-Funktionären für eine soziologische Studie versperrte. Erst neun Jahre nach der Promotion habilitierte sich Oertzen 1962 mit einer historischen Arbeit über die Rätedemokratie von 1918/1919. Zeitlebens blieb er ein unerbittlicher Kritiker von autoritärem Leninismus und terroristischem Stalinismus, stellte sich aber immer gegen die "berufsmäßigen Kommunistenfresser", denen der linke Pluralismus ein Dorn im Auge war. Als Kultusminister in Niedersachsen baute er die TH nicht nur zur Volluniversität aus, sondern bewies mit der Berufung von Oskar Negt, Jürgen Seifert, Michael Vester und nicht weniger als vier ehemaligen Assistenten von Wolfgang Abendroth zu Professoren, was er unter linkem wissenschaftlichem Pluralismus verstand. So wurde die konservative Professorenschaft im "Bund Freiheit der Wissenschaft" zu seinem aggressivsten Gegner.

Nach fast 60 Jahren trat er aus der SPD aus - wegen der Agenda 2010

Auch bei der Anwendung des "Radikalenerlasses", der vor allem bei Lehrereinstellungen eine wichtige Rolle spielte, verfuhr Oertzen als Kultusminister moderat. In 99 Prozent der Fälle begnügte sich seine Behörde mit einer Abfrage in einer Datenbank, die nur Namen von Mitgliedern politischer Organisationen enthielt. Nur bei 0,5 Prozent der Überprüfungen kam es zu einer persönlichen Anhörung, und nur 28 der 176 zwischen 1972 und 1976 angehörten Personen wurden - mit umfassender schriftlicher Begründung - nicht eingestellt. Damit unterschied sich Niedersachsen deutlich von der beschämenden "Sympathisantenjagd" in anderen Bundesländern.

Nach der Wiedervereinigung, die sich Oertzen lieber als Neugründung nach Artikel 146 Grundgesetz gewünscht hätte als in Form des Anschlusses nach Artikel 23, geriet er an den linken Rand des politischen Spektrums. Vollends enttäuscht über die Agenda 2010 seiner Partei trat er 2005 - nach fast 60 Jahren Mitgliedschaft - mit der Begründung aus: "Ich bin und bleibe Sozialist", weshalb er in der SPD nicht mehr "am rechten linken Platz" sei.

Kufferaths Biografie ist eine Fundgrube für alles, was sich seit 1949 links von der Mitte bewegte. Oertzen war bis ins hohe Alter ein passionierter Briefschreiber, fertigte Durchschläge seiner Briefe an und bewahrte alles auf. Nicht zuletzt dies ermöglichte es dem Biografen, sein beeindruckendes Buch zu schreiben.

Philipp Kufferath: Peter von Oertzen (1924-2008). Eine politische und intellektuelle Biografie. Wallstein, Göttingen 2017, 797 Seiten, 49,90 Euro.

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