Pendelrekord in Deutschland:Auf breiten Straßen in den Stau

Der Ausbau der Verkehrswege verleitet viele zum Pendeln. Verkehrsexperten fordern deshalb von der Politik eine Umkehr. Im Visier: die Pendlerpauschale.

Von Josef Kelnbergerund Roland Preuß

Baden-Württemberg rühmt sich im Andenken an Carl Benz gern als "Automobilland". Was die wenigsten wissen: Baden-Württemberg ist auch das deutsche Fahrradland. Im Juni jährt es sich zum 200. Mal, dass Karl Freiherr von Drais in Mannheim mit seinem Laufrad auf Tour ging - eine Weltpremiere. Dem Freiherrn und seiner Erfindung ist in Mannheim derzeit eine Ausstellung gewidmet, sie zeigt am Ende ein riesiges Bild des Kopenhagener Wahrzeichens "Cykelslangen": der 190 Meter langen Brücke für den Radverkehr. Kopenhagen, die Fahrrad-Stadt, in der ein großer Teil der Pendler mit Muskelkraft zum Arbeitsplatz gelangt, als Vorbild für Deutschland, das in seinen Autopendler-Staus zu versinken droht?

Die Frage und die Ausstellung passen zu den Zahlen, die am Wochenende das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) vorgelegt hat: Sechzig Prozent der Beschäftigten in Deutschland pendeln mittlerweile zum Arbeitsplatz, in Ballungsräumen sind es mehr als zwei Drittel, ein Rekordwert. Tendenz weiter steigend. Und die meisten pendeln nach wie vor mit dem Auto. Die Kosten dieser Mobilität sind hoch: genervte Autofahrer in langen Staus, Lärm und Abgas machen Anwohner krank, immer mehr Grünfläche, die unter Asphalt oder Bahntrassen verschwindet. Was ist die politische Antwort darauf?

Der deutsche Südwesten ist eine Art Experimentierfeld, wenn es um die Frage geht, wie Deutschland mit den Pendlerströmen umgehen soll. Die teilweise auf München-Niveau gestiegenen Mieten und Immobilienpreise in Stuttgart treiben die Menschen ins Umland. Mehr als die Hälfte der in Stuttgart Beschäftigten wohnt außerhalb, von ihnen fahren fast zwei Drittel mit dem Auto zur Arbeit. Mit München liefert sich Stuttgart einen Kampf um den Titel "deutsche Stau-Hauptstadt". In jedem Fall hält Stuttgart die Rekorde, wenn es um Luftverschmutzung durch Autos geht.

Je schneller ein Verkehrsmittel ist, desto attraktiver werden längere Strecken

Der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn will ein Fünftel weniger Autos in der Stadt haben. Der Plan: ein besserer öffentlicher Personennahverkehr, bessere Vernetzung der Verkehrsmittel, ein Ausbau von Fuß- und Radwegen. Dank E-Bikes könnte das Fahrrad auch im Stuttgarter Kessel attraktiver werden. Dem langfristigen Ziel stehen die aktuellen Schadstoffwerte gegenüber. Deshalb hat Kuhn den "Feinstaub-Alarm" erfunden, einen Appell an die Pendler, freiwillig das Auto stehen zu lassen. Das Echo ist allerdings eher bescheiden. Um Stickoxid- und Feinstaubwerte in den Griff zu bekommen, plant die von den Grünen geführte Landesregierung, vom nächsten Winter an, alte Dieselfahrzeuge auszusperren. Koalitionspartner CDU zieht mit - unter Schmerzen, die sich kompensatorisch in der Forderung nach mehr Straßen äußern. Exemplarisch zeigen sich in Stuttgart aber auch die völlig unterschiedlichen Ansätze, das Pendler-Thema anzugehen. Während die Grünen zwar die Autoindustrie modernisieren, aber auch Alternativen ausbauen wollen, setzt der Koalitionspartner CDU weiter vor allem auf neue Straßen. Die Sozialdemokraten in Bayern und Baden-Württemberg sehen das ähnlich. Die Spitzen beider Landtagsfraktionen verlangten am Montag, gemeinsame Straßen und Schienenprojekte schneller zu bauen. Die Verkehrsachsen in Süddeutschland bräuchten dringend Entlastung. Was aber löst das Pendler-Problem: Breitere Straßen, bessere Bahnverbindungen, oder ganz andere Maßnahmen?

Unter Verkehrsexperten herrscht weitgehend Einigkeit: Der Neubau von Straßen löst kein Problem. Von "induziertem Verkehr" spricht Florian Hacker, Mobilitätsexperte des Öko-Instituts. Je schneller ein Verkehrsweg ist, desto attraktiver werden längere Strecken, mit der Folge von noch mehr Pendlern und noch mehr Zersiedelung. Der Zusammenhang gelte sogar für Hochgeschwindigkeitszüge. "Die Infrastrukturpolitik, wie sie jetzt betrieben wird, verschärft die Probleme noch. Sie generiert noch mehr Verkehr, statt ihn zu vermeiden." Wohnung und Arbeitsplatz müssten wieder zueinanderfinden. Hackers Vorschlag: Gebühren für die Straßennutzung und höhere Spritpreise, um zum Beispiel sozialen Wohnungsbau zu finanzieren.

Davon abgesehen, sagt Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, gebe es in den Ballungsräumen nicht mehr genug Platz, die Verkehrswege auszubauen. "Das ist ausgereizt - und es ist auch dumm." Schon jetzt würde täglich Fläche im Ausmaß von 17 Fußballfeldern für Verkehrsflächen verbraucht. Knie plädiert dafür, die Pendlerströme zu verringern, indem der Staat bessere Anreize setzt. Das heißt: indem er die Pendlerpauschale abschafft. Eine Forderung, die auch Verkehrsexperte Hacker teilt.

Pendeln sei "letztlich eine private Entscheidung", sagt der DIW-Steuerexperte

Die Entfernungspauschale, wie sie offiziell heißt, erlaubt es Berufstätigen, für jeden Kilometer Arbeitsweg 30 Cent von der Steuer abzusetzen. Belohnt wird, wer pendelt. Würde die Pauschale gestrichen, müsste jeder selbst voll dafür aufkommen. Doch ist das fair? Viele Bürger, gerade Familien, können sich in der Stadt keine Immobilie mehr leisten und sind somit praktisch gezwungen, ins Umland zu ziehen. Dennoch, sagt Knie, habe jeder einzelne Einfluss darauf, wie viel er pendele. "Wir können uns das einfach nicht mehr erlauben, ökonomisch wie ökologisch."

Pendeln sei "letztlich eine private Entscheidung", sagt auch der Steuerexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Stefan Bach. Bach weiß um die politischen Empfindlichkeiten bei dem Thema. Es gibt zig Millionen Pendler, dementsprechend lässt sich mit der Steuererleichterung bei Wahlen punkten. Der ADAC macht sich seit jeher dafür stark, findet aber auch in den Parteien Unterstützung, etwa bei der CSU. Bach plädiert für eine Pendlerpauschale nur für bestimmte Gruppen: etwa Paare, die an verschiedenen Orten arbeiten und bei denen man bei einem Partner die Kosten berücksichtigen könnte. Oder sie könnte einige Jahre lang greifen beim Wechsel des Arbeitsplatzes.

Und das Fahrrad als Teil der Lösung? Winfried Hermann, Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister und leidenschaftlicher Radfahrer, wird von den Konservativen gern belächelt, weil er den Ausbau von Radschnellwegen für Berufspendler mit mehreren Millionen fördert. Aber siehe da: Anlässlich des Nationalen Fahrrad-Kongresses, der am Montag in Mannheim begann, rühmte sich auch das CSU-geführte Bundesverkehrsministerium für die 25 Millionen Euro, mit denen erstmals "Fahrrad-Autobahnen" ohne Ampeln und Kreuzungsverkehr gefördert werden. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) findet: Nötig wäre die zehnfache Summe.

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