Süddeutsche Zeitung

Peking:Die revolutionäre Liebe zu China

Vor hundert Jahren protestierten Pekinger Studenten für mehr Demokratie und freie Wissenschaft. Es war ein Ereignis von riesiger Strahlkraft. Doch was ist von dieser Bewegung geblieben?

Von Lea Deuber, Peking

Als sein Dozent die Aufgabe stellte, ein Ereignis der jüngeren chinesischen Geschichte zu recherchieren, verbrachte Wang Xi drei Tage in der Bibliothek. Dort las er alles, was er über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens finden konnte. Der 19-Jährige war noch nicht geboren, als die Panzer über die Studenten der Universität rollten, an der er seit einigen Monaten studiert. Die Beijing Universität, kurz Beida, ist die renommierteste Hochschule des Landes. Wang nennt sie stolz die "freiste Universität Chinas". Ein Ort, an dem er ein Buch über ein Ereignis aufschlagen darf, über das in den zwölf Jahren seiner Schulzeit nicht gesprochen wurde. Ein Datum, das die Partei aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt hat.

Seit ihrer Gründung ist die Pekinger Uni Keimherd für Umwälzungen. Vor 100 Jahren war sie Ausgangspunkt für eine Bewegung, die heute für eine ganze Epoche der jüngeren chinesischen Geschichte steht. Keine Strömung ist später stärker als Projektionsfläche genutzt worden als die Bewegung des 4. Mai 1919. Kein Datum besitzt größere Strahlkraft auf die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Mit den Massenprotesten formte sich zum ersten Mal ein Bewusstsein für die chinesische Nation. Ein Bewusstsein, das die Kommunistische Partei heute mit gemischten Gefühlen betrachtet.

Einerseits nutzt die Führung in Peking Nationalismus und Patriotismus selbst, um ihre Herrschaft zu stärken. Sie versucht, die Liebe zu China und die Liebe zur Partei unzertrennlich miteinander zu verschmelzen. Zusammen gehört das aber freilich nicht, sagt ein Geschichtsprofessor aus Peking im Gespräch. Ein Gedanke, der so ungeheuerlich ist, dass es im heutigen China Konsequenzen haben kann, wenn man ihn öffentlich ausspricht. Sodass sich der Dozent lieber nicht namentlich zitieren lassen möchte. In der neuen Ära müssten vor allem junge Menschen der Partei gehorchen, warnte Präsident Xi Jinping erst am Dienstag in einer Rede anlässlich des Jahrestages. Peking hat Schulen und Universitäten angewiesen, in diesen Tagen besonders wachsam zu sein.

Von hundert Studenten will nur einer über die Bedeutung die Ereignisse reden

Auslöser für die Proteste nach Ende des Ersten Weltkriegs war das Schlussdokument des Versailler Vertrags, das den Japanern die Provinz Shandong zusprach. Es war die deutsche Kolonie in Ostchina, die Tokio im Krieg bereits übernommen hatte. Es gab geheime Verträge, die die Siegermächte zuvor mit Japan geschlossen hatten, nun sollte dauerhafte Besetzung gebilligt werden. Die Wut über die Westmächte, aber auch auf die Unfähigkeit der eigenen Regierung, die Interessen Chinas durchzusetzen, trieb Tausende Studenten auf die Straße und sprang schnell auf Menschen aller Klassen über. Das Land befand sich acht Jahre nach dem Sturz des Kaisers am Rande eines Bürgerkriegs.

China hatte nicht nur sein politisches System hinweggefegt. Revolutionäre Gedanken strömten aus dem Ausland herein. Intellektuelle forderten "Mr. Konfuzius" durch "Mr. Wissenschaft" und "Mr. Demokratie" zu ersetzen. Eine Statue des Dekans der Beida, Cai Yuanpei, der 1919 in Protest gegen die Verhaftung seiner Studenten während der Proteste zurückgetreten war, um dann nach einigen Monaten erneut als Rektor bestätigt zu werden, steht heute noch im Park der Hochschule. Bis zum Ende seiner Amtszeit galt er als unbeugsamer Verfechter der Menschenrechte und für die Freiheit von Lehre und Forschung. Doch wie viel des Geistes von Cai hat an der Universität überlebt?

Student Wang, der auf dem Weg zu Vorlesungen an der Statue vorbeikommt, hat in der vergangenen Woche an einem Lauf der Uni über 5,4 Kilometer teilgenommen, der an die Bewegung erinnern sollte. Der revolutionäre Geist der Studenten von damals ist laut Wang nicht mit heute zu vergleichen. Eine Revolution diene dem Zweck, alte Regeln zu brechen. "Das Haus der Herrschenden abzubrennen ist leicht. Aber ein Neues zu bauen, das ist schwer." Man müsste heute viele ökonomische und soziale Aspekte in China in Betracht ziehen. "Es gibt kein gutes und etabliertes System in China, das die Parteienherrschaft ersetzen könnte." Der Boden, auf dem die Studenten vor 100 Jahren die Demokratie gepflanzt hätten, er sei nie fruchtbar genug gewesen.

Der 19-Jährige spricht schnell. Manchmal klingt er bei seinen Ausführungen wie ein Politiker, nicht wie ein Student. Einzig wenn es um die Herrschaft der KP geht, nimmt er sich Zeit, die richtigen Worte zu finden. Mehr als 100 Studenten, die diese Zeitung angefragt hatte, haben ein Interview zu dem sensiblen Jahrestag abgelehnt. Nur Wang will reden. Auch wenn er darum bittet, dass sein Name geändert wird. Das Gespräch führt er in einem Innenhof der Hochschule, in der es keine Kameras gibt. An der freiesten Uni Chinas müssen sich Studenten am Eingang per Gesichtserkennung melden.

Wang steht mit seiner Haltung nicht für alle Studenten an der Universität, aber für viele. Seine Eltern sind Arbeiter aus Nordchina. Als die Zulassung zur Beida kam, konnten sie es zuerst nicht glauben. Nun lebt er mit drei Kommilitonen in einem Zimmer im Wohnheim der Uni, isst in der Kantine in Zucker angeschmorten Schweinebauch. Und einmal in der Woche geht er zum Debattierklub. Zuletzt haben sie darüber gestritten, ob man einen Menschen vom Suizid abhalten soll, wenn er sich seiner Sache sicher ist.

Natürlich gibt es auch Studenten, die weniger zufrieden sind mit der Politik Pekings. Dazu gehört eine Gruppe von Studenten, die sich selbst als Marxisten bezeichnen und sich für die Rechte von Arbeitern einsetzen. Wang war dabei, als einer von ihnen im Herbst auf dem Campus verhaftet wurde. Sie verfolgten gute Ziele, doch mit den falschen Mitteln, findet Wang. Sein Aufsatz über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ist fertig. Dass das in China kein Thema mehr ist, findet er richtig. "Die breite Bevölkerung sollte nicht erfahren, was damals passiert ist." Die meisten Menschen in China seien dafür nicht aufgeklärt genug.

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SZ vom 04.05.2019
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