Manche verklären heute die Zustände vor 1968, andere vermissen die DDR. Gab es solche Phänomene auch in den zwanziger Jahren?
Nostalgie gab es immer. Aber ein entscheidender Unterschied, wenn Sie 1968 und die DDR ansprechen, ist doch: Auf der Linken gab es damals keine Bezugspunkte dafür. Im Gegenteil, die wollten, jedenfalls links von der SPD, emphatisch nach vorn, die bürgerliche Welt überwinden, vorwärts zum sozialistischen Menschen und zur sozialistischen Gesellschaft. Und die rapiden technischen Veränderungen schienen ihnen recht zu geben: Die Welt ist im Wandel, und alles ist möglich, alles ist machbar. Die radikale Rechte teilte damals viele dieser Impulse: die Überwindung der bürgerlichen Welt, die freilich anders definiert wurde, als verweichlicht, ohne Führung, und nicht zuletzt als national und ethnisch gefährdet. Da sind wir beim radikalen Antisemitismus und der Vision einer homogenen Volksgemeinschaft.
Der Boden, auf dem die Gewaltherrschaft der Nazis wuchs.
Ja, aber unter anderen Vorzeichen auch der buchstäblich rücksichtslose Kommunismus Lenins und der Stalinismus.
Der Weg zu den vermeintlich besseren Zuständen führte doch zwangsläufig über Leichen. War das den Leuten damals nicht klar?
Menschenleben spielten in diesen Vorstellungen tatsächlich keine Rolle. Das Ziel war die große Reinigung der Gesellschaft, die kollektive Katharsis. Solche Utopien sehe ich heute nicht. Die Erfahrungen mit faschistischen Diktaturen, aber auch mit dem Kommunismus haben die Menschen ernüchtert. Das Individuum, seine Würde und seine Rechte stehen an erster Stelle. Das muss, wo es erreicht ist, verteidigt und nicht überwunden werden. Auch deshalb ist der Begriff Revolution, von dem früher Nationalisten und Sozialisten schwärmten, heute negativ besetzt, und selbst die "Reform" ist anrüchig geworden.
Illiberale Tendenzen finden aber verstärkt Anklang - Donald Trumps Politik und Viktor Orbáns Kampagnen sind aktuelle Beispiele. Erleben wir gerade ein gesellschaftspolitisches Rollback?
Ja, absolut. Damit sind wir wieder bei den Parallelen zur Zwischenkriegszeit. Das Rollback ist eine Reaktion auf die liberalen Zumutungen, die man nicht ertragen kann. Das gilt im umfassenden Sinne: Die verschiedenen Ausformungen von Illiberalität - politisch, gesellschaftlich-kulturell und auch wirtschaftlich, etwa im nationalen Protektionismus - sind alle miteinander verbunden. Besonders frappierend ist die alt-neue Frauenfeindlichkeit; sie ist ein heimlicher Kern und Klebstoff illiberaler Bewegungen.
Sie denken da an Trump und seine Tiraden gegen Frauen?
Während seines Wahlkampfes hat man das etwas zu anekdotisch gesehen. Aber Trumps Verhalten hat wohl etwas Konstitutives: Es sendet seiner Klientel ein Signal, dass man es mit der gesellschaftlichen Liberalisierung seit 1968 doch wohl etwas übertrieben habe. Auch jenseits der USA sehen wir diesen Antifeminismus in nationalistischen und populistischen Bewegungen. Das ist übrigens auch eine Gemeinsamkeit zum Kaiserreich.
Die AfD beklagt einen "Feminismus- und Genderwahn", Björn Höcke behauptet sogar, Deutschland habe seine Männlichkeit verloren. Warum verfangen solche Äußerungen bei manchen Menschen nach wie vor?
Das ist verblüffend, nicht wahr? Ich bin 1963 geboren und in der Gewissheit erwachsen geworden, die Gleichstellung von Mann und Frau sei jetzt selbstverständlich.
Zeit genug war eigentlich, die Zäsur von 1968 ist nun 50 Jahre her.
Aber offensichtlich war dieser Umbruch viel fundamentaler und jenseits liberal-akademischer Milieus eine viel größere Herausforderung als bislang gedacht. Ein Teil der Gesellschaft knabbert immer noch daran. Natürlich führt kein Weg hinter die Frauenemanzipation zurück und auch nicht hinter die Homoehe. Im Gegenteil, da liegen noch Wegstrecken vor uns. Aber wir müssen den Kritikern und den Zweiflern mehr Zeit geben, die Veränderungen zu verdauen, müssen vielleicht besser erklären und Ängste zu entkräften versuchen. Also übrigens: das Gegenteil von "konservativer Revolution".