Paul Nolte, Jahrgang 1963, ist Professor an der Freien Universität Berlin. Der Historiker lehrt und forscht unter anderem zur deutschen und amerikanischen sowie zur Sozialgeschichte der vergangenen 300 Jahre. Nolte, der nicht verwandt ist mit dem rechtskonservativen Historiker Ernst Nolte, sagt von sich, er sei neokonservativ mit einem Faible für schwarz-grüne Bündnisse. Mit ihm sprach Dominique Eigenmann, der Berliner Korrespondent des in Zürich erscheinenden Tages-Anzeigers.
Dominique Eigenmann: In Deutschland etabliert sich erstmals eine rechtspopulistische Partei. Die politische Landschaft ist in Bewegung geraten wie nie mehr seit der Gründung der Grünen in den 80er-Jahren. Was passiert hier gerade?
Paul Nolte: Sie erinnern zu Recht an die Grünen. Was wir jetzt erleben, ist eine Entwicklung, die sich seit dreieinhalb Jahrzehnten angebahnt hat, nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Wir beobachten, dass Parteiensysteme erodieren und instabiler als zuvor neu erfunden werden. Deutschland nahm in dieser Entwicklung bis vor kurzem noch eine vergleichsweise stabile Mittelposition ein. Aber damit ist es jetzt vorbei.
Von welchen Ländern sind diese Erschütterungen ausgegangen?
In Italien oder den Niederlanden sind die klassischen Nachkriegsparteiensysteme schon lange kollabiert. Noch stabiler als das Gefüge in Deutschland waren dafür die faktischen Zweiparteiensysteme etwa in Großbritannien oder Spanien. Aber all das hat sich in den letzten Jahren aufgelöst.
Erstaunlich sind vor allem das Tempo und die Heftigkeit, mit der sich in letzter Zeit diese Verschiebungen vollziehen.
Ja, vor allem im Vergleich zu den Entwicklungen davor. Die Grünen haben in Deutschland Jahrzehnte gebraucht, um in der politischen Mitte anzukommen. Sie sind als Protestpartei von links gestartet, mit viel Aufruhr, und haben sich dann mühselig und in kleinen Schritten einen Platz im Parlament, in den Kommissionen, schließlich auf Regierungsbänken erobert.
Der Durchbruch der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland, die seit letztem Sommer sozusagen von null auf 15 Prozent oder mehr gesprungen ist, verlief im Vergleich geradezu handstreichartig.
Gibt es in der deutschen Geschichte Parallelen?
Was die Dramatik der Entwicklung angeht, muss man weiter zurückblicken als in die 80er-Jahre, nämlich in die Weimarer Republik der 20er- und frühen 30er-Jahre. Völlig unabhängig vom Programm, das eine Partei vertritt, irritiert es einen Historiker, wenn eine neue Formation aus dem Stand 24 Prozent der Stimmen erobert, wie die AfD in Sachsen-Anhalt im März. Darin drückt sich eine quasi-revolutionäre Unruhe aus.
Politiker, die vor den neuen Rechten warnen wollen, sprechen schon länger von angeblichen "Weimarer Zuständen". Ist der Vergleich mit der Vor-Hitler-Zeit nicht überzogen?
Was die Überrumpelungsdynamik angeht, nicht. Die erinnert tatsächlich an die Rasanz, mit der sich die Nationalsozialistische Partei in der Weimarer Republik politisch durchgesetzt hat. Erst hatte die NSDAP 18 Prozent, dann auf einmal 30, und bald war Regieren gegen sie faktisch unmöglich.
Seien wir ehrlich: Heute weiß auch niemand, wo der Aufstieg der AfD einmal eine Grenze finden wird. In Österreich holte der Kandidat der Rechtspopulisten von der FPÖ die Hälfte der Stimmen. Wer hätte das noch vor kurzem für möglich gehalten!
Gibt es außer der Heftigkeit der Entwicklung weitere Ähnlichkeiten?
Strukturell durchaus. Wir erleben derzeit in ganz Europa, wie damals Mitte der 20er-Jahre, dass Demokratien instabil werden. Diese Instabilität mündet aber, und das ist ein wichtiger Unterschied, bisher nicht in den offenen Kollaps, nicht einmal in Ländern wie Ungarn oder Polen, sondern höhlt vielmehr die Systeme von innen aus. Doch wie in der "Großen Krise der Demokratie", wie ich die europäischen 20er-Jahre gerne nenne, sind demokratische Selbstverständlichkeiten gefährdet oder werden infrage gestellt.
Was das Programm angeht: Ist die AfD denn faschistisch?
Nein. Diese Partei ist vielgestaltig, in Bewegung und in sich widersprüchlich, aber faschistisch würde ich sie nicht nennen. Dennoch: Es gibt in ihr Politiker, die von einer völkischen Revolution träumen. Und widersprüchlich und vielgestaltig waren die Nationalsozialisten zu Beginn auch.
Bei allen Unterschieden kann man auch eine Ähnlichkeit darin sehen, dass beide in gewisser Weise einen Extremismus der Mitte verkörpern, der nicht mehr richtig ins klassische Schema von links und rechts passt.
Woher kommt denn die ungeheure politische Dynamik, die wir gerade erleben?
Sie stammt aus der angesprochenen Auflösung der Parteiensysteme der Nachkriegszeit, die in den meisten Fällen ja viel weiter als bis zum Krieg zurückreichen, in Deutschland etwa bis in die Kaiserzeit der 1870er-Jahre. In dieser Zeit haben sich nicht nur die Parteien, sondern auch die Milieus gebildet, die sie repräsentieren, also Gesellschaft und politische Struktur.
Wer in dieser Zeit Sozialdemokrat, Katholik oder Zentrumswähler war, war es von der Wiege bis zur Bahre, und auch seine Kinder waren es wieder. Diese sozialen Milieus haben sich fast vollständig aufgelöst, deswegen existieren auch diese politischen Bindungen nicht mehr. Das ist eine Folge der Individualisierung der Gesellschaft, die auch zu einer Individualisierung der politischen Überzeugungen geführt hat. Die flottieren heute praktisch frei.
In den 20er-Jahren stürzte die Welt in eine schwere Wirtschaftskrise. Ist heute die Krise der Globalisierung ein Grund dafür, dass die Demokratien im Westen unter Druck geraten? Weil der Westen gerade seine wirtschaftliche Ausnahmestellung einbüßt?
Vielleicht. Gleichzeitig ist es ja keineswegs so, dass Globalisierung heute zum Nachteil des Westens verläuft, also sozusagen gegen seinen Erfinder zurückschlägt. Der Rückschlag ist mehr kultureller Art. Vielleicht kann man sagen, dass das, was Globalisierung bedeutet - Freihandel, aber auch weltweite Migration - heute erstmals wirklich in den Köpfen und im Alltag der Menschen angekommen ist.
Viele sind durch die neuen Abhängigkeiten verwirrt. Und erstmals scheinen sich die Menschen zu fragen: Will ich das eigentlich? Nützt mir das überhaupt? Auch darin zeigt sich eine tiefere kulturelle Parallele zur Krise der 20er-Jahre: Vielen Menschen fällt es schwer, Modernität zu bewältigen. Es geht um eine eigentliche Krise des Weltverstehens.
Sind es vor allem die wirtschaftlichen Sorgen, die die Menschen verunsichern? Oder ist das Unbehagen kultureller Art?
Als Historiker bin ich überzeugt, dass man stets beide Dimensionen im Auge behalten muss, die sozio-ökonomische und die sozio-kulturelle. Heute stellt man nun einerseits fest, dass viele Menschen den modernen Kapitalismus nicht mehr wiedererkennen, der ja längst nicht mehr der Industrie-Kapitalismus der Thyssens und Rockefellers ist. Andererseits verstehen viele nicht, warum beispielsweise Schwule jetzt auch heiraten dürfen - so wie früher Frauen mit Bubikopf und Hosen für Aufruhr sorgten. Die gesellschaftliche Liberalisierung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten nochmals einen großen Schub bekommen. Nun zeigt sich erstmals breiter Widerstand gegen den neuen Mainstream.
Deutschland ist wirtschaftlich in einer beneidenswerten Lage. Formiert sich deswegen der politische Protest hier vor allem als eine Art kulturelle Konterrevolution von rechts?
Jedenfalls ist der Protest anders gelagert als in Griechenland, wo die Menschen vom Bankrott ihres Staates bedroht sind und deswegen die sozialistische Linke wählen. Deutschland ist im Vergleich dazu offensichtlich ein Gewinner der Globalisierung. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm sind zwar gewachsen, aber der Mitte geht es so gut, dass der ökonomische Populismus und Alarmismus, den man jetzt überall hört - "Hilfe, wir fallen immer weiter zurück" -, nüchtern besehen jeder Grundlage entbehrt. Die Theorie, dass es die ökonomischen Verlierer sind, die die Rechtspopulisten wählen, in Deutschland, der Schweiz oder den USA, stimmt jedenfalls nur zum Teil. Ihre Verluste sind häufig nicht wirkliche Verluste, sondern eher gefühlte oder befürchtete.
Frappant ist, dass sich der Protest von rechts besonders auf dem Land zeigt und ausdrücklich gegen die Städte richtet.
Wenn Sie sich die Wahlkarte in Österreich ansehen, fällt diese Spaltung sofort ins Auge: Das Land ist tief FPÖ-blau, die Städte schwimmen wie kleine grüne Inseln darin. Sozialgeschichtlich ist auch diese Opposition eine, die wir bereits in den 20er- und 30er-Jahren erlebt und seither mehrheitlich überwunden geglaubt haben. Damals war die Kluft zwischen einer modernen Metropole wie Berlin mit ihren gesellschaftlichen Freiheiten und der noch sehr rückständigen Provinz gewaltig.
Es war wie eine Kluft zwischen verschiedenen Jahrhunderten. Seither haben die Unterschiede enorm abgenommen, weil sich gerade in Deutschland der ländliche Raum stark urbanisiert hat. Dennoch tritt der Widerspruch von Metropole und Provinz nun wieder mit Macht auf die politische Bühne. Gerade in Ostdeutschland ist das Ressentiment des abgehängten Provinzlers ausgesprochen stark. Es wendet sich rabiat gegen die multiethnischen, multisexuellen Werte der Metropole, gegen das ganze "links-rot-grün verseuchte 68er-Deutschland", wie einer der Vorsitzenden der AfD kürzlich sagte, und findet dafür im Rechtspopulismus eine Heimat.
Den wachsenden Unmut auf dem Land hat ein österreichischer Politologe damit erklärt, dass Abwanderung offenbar mehr schlechte Stimmung erzeugt als Einwanderung, von der ja vor allem die Städte betroffen sind.
Jedenfalls hat der zwei Jahrzehnte andauernde Auszug aus Ostdeutschland dazu geführt, dass da heute insbesondere viele Männer leben, die mit der neuen Republik nicht mehr ganz mitkommen.