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Ideologie:Von "guten" Patrioten und "bösen" Nationalisten

Patrioten wollen das Beste für ihr Land, aber nicht auf Kosten anderer, heißt es. Doch die Grenze zum Nationalismus lässt sich nicht so leicht ziehen. Das zeigt die Geschichte.

Essay von Markus C. Schulte von Drach

Immer wieder sehen sich Politiker genötigt, zu erklären, wieso sie Patrioten, aber keine Nationalisten sind. Jüngstes Beispiel: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nationalismus sei der Glaube, man könne alles allein lösen und müsse nur an sich denken, so Merkel bei der Generaldebatte im Bundestag. Patriotismus sei es im Gegensatz dazu, "wenn man im deutschen Interesse auch andere mit einbezieht und Win-Win-Situationen akzeptiert."

Kurz zuvor, zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges, hatte auch der französische Präsident Emmanuel Macron die Begriffe definiert. Für ihn ist Nationalismus nicht nur das Gegenteil von Patriotismus, sondern sogar ein Verrat an demselben. Seine Erklärungen ähnelten denen von Merkel: "Wer sagt 'Unsere Interessen zuerst, ganz egal was mit den anderen passiert', der löscht das Wertvollste aus, das eine Nation haben kann, das eine Nation groß macht und das Wichtigste ist: seine moralischen Werte". In einem CNN-Interview stellte er später klar, als Patriot sehe er selbst durchaus Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen und ihren Identitäten. Er glaube jedoch daran, dass es Kooperation zwischen unterschiedlichen Menschen gibt, die für alle gut sei.

Auch die britische Premierministerin Theresa May, die anlässlich des Brexits auf die patriotische Karte setzt, versucht zu differenzieren: "Natürlicher Patriotismus" sei "der Grundstein einer gesunden Gesellschaft", sagte sie unlängst vor der UN-Vollversammlung. Man habe gesehen, was passiere, wenn dieser "in einen aggressiven Nationalismus verwandelt wird, der Angst und Unsicherheit ausnutzt, um die Identitätspolitik im eigenen Land und die kriegerische Konfrontation im Ausland zu fördern, während er gegen Regeln verstößt und Institutionen untergräbt".

Sowohl Merkel als auch Macron und May konzentrierten sich auf die Interessen ihrer Nationen auf dem internationalen Parkett. Ihre Abgrenzung zum Nationalismus diente der Kritik an Regierungen wie jenen in Washington, Budapest, Rom und Warschau sowie an den Rechten im eigenen Land. Was die Begriffe tatsächlich bedeuten, wird deshalb nicht ganz klar.

Als gute Definition gilt jene, die 1999 der damalige Bundespräsident Johannes Rau (SPD) festlegte: "Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt und Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet." Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble fasste am diesjährigen Tag der Deutschen Einheit ebenfalls knapp zusammen: Patriotismus habe das Ziel, "das beste Deutschland, in dem wir das Glück haben zu leben, noch besser zu machen". Weder Schäuble noch Rau sprachen von den Interessen ihrer Länder in der Welt. Bei beiden ging es implizit oder explizit vor allem um das Interesse am Gemeinwohl, dem "bonum commune", des eigenen Volkes, von dem Merkel und Macron dagegen nicht sprachen.

Kurz und knapp versucht auch der Duden die beiden Begriffe zu trennen: Patriotismus ist ihm zufolge die "[begeisterte] Liebe zum Vaterland; vaterländische Gesinnung", Nationalismus dagegen "(meist abwertend) übersteigertes Nationalbewusstsein". Das klingt eindeutig. Die Bundeszentrale für politische Bildung aber stellt fest, Nationalismus nenne man "falsch verstandenen Patriotismus". Wenn sich aber Patriotismus falsch verstehen lässt, gibt es ganz offensichtlich ein grundsätzliches Problem.

Ursprung im 18. Jahrhundert

Dass es so schwierig ist, die beiden Einstellungen zum Vaterland klar zu trennen, hängt mit ihrer Entstehung und Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten zusammen. Der Patriotismus hat seinen Ursprung vor allem im 18. Jahrhundert. Damals begannen Gelehrte, Geistliche, Beamte, Politiker, Schriftsteller und gebildete Bürger sich dafür einzusetzen, ihre Mitbürger an den Fortschritten der Wissenschaft teilhaben zu lassen. In "Gesellschaften" bündelten sie ihre Kräfte, um Aufklärung zu betreiben.

Obwohl es einen Austausch zwischen ihnen über alle Ländergrenzen hinweg gab, konzentrierten die meisten ihr Engagement überwiegend auf ihre jeweiligen Städte und Regionen - die geliebte Heimat -, wo sie ihre Gedanken und Erkenntnisse zum Beispiel in Journalen veröffentlichten.

Die Ziele fasste eine Hamburger Wochenschrift schon 1724 in ihrer ersten Ausgabe zusammen: Es ginge darum, "daß die bey meinen Mit-Bürgern, insonderheit den Teutschen, und unter denen bey unsern Hamburgern, eingewurtzelte Irrthümer, Mißbräuche und übele Gewohnheiten, wo nicht ausgeräutet, wenigstens nach ihrer lächerlichen oder gefährlichen Wirckung vor Augen gestellet, werden mögen". Herausgeber war die "Patriotische Gesellschaft", ihr Journal, eines der ersten und bedeutendsten, hieß Der Patriot.

Patriotismus - die Liebe zum Vaterland - galt somit als Motiv für die Verbesserung des Gemeinwohls, für "Bürgersinn" und "Gemeingeist". Zugleich gab es unter den "Patrioten" durchaus einen Anspruch auf Weltoffenheit und die Liebe zu allen Menschen. Barthold Joachim Zinck etwa, Herausgeber eines Journals, dichtete um 1741: "Wer nur sein Vaterland, und Fremde nicht, verehrt, / Ist keiner Vaterstadt und keines Lebens werth."

Die Patrioten begannen ihre Arbeit also gewissermaßen nach dem Motto: "Ein jeder kehre vor seiner Tür, da hat er Dreck genug dafür." Vielleicht hätte ihr Wahlspruch auch jener der Agenda 21 der Vereinten Nationen zu nachhaltiger Entwicklung sein können: "Global denken - lokal handeln".

Die Zielgruppe der Aufklärer war bald nicht mehr nur der gebildete Stand, die Bürger, sondern alle - auch Arbeiter, Handwerker, Bauern - zusammenfassend angesprochen als das "Volk". Das war eine neue Idee gegenüber der bislang in Stände aufgeteilten Gesellschaft. In Frankreich wurden nach der Revolution 1789 alle "Citoyens", unabhängig von der Herkunft. Und für die revolutionäre Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit begeisterten sich viele Europäer, Amerikaner und Menschen in den Kolonien.

Mit deutsch-patriotisch wallendem Herzen

Der patriotische Blick richtete sich anfänglich tatsächlich auf die eigene Heimat - gewissermaßen nach innen. "Was kann denn also deutscher Patriotismus anders seyn, als Liebe der gegenwärtigen Verfassung des gemeinen Wesens und aufrichtiges Bestreben, zur Erhaltung und Vervollkommnung derselben alles beizutragen, was Jeder, nach seinem Stande, Vermögen und Verhältniß zum Ganzen dazu beizutragen fähig ist?", beschrieb 1780 der Dichter Christoph Martin Wieland (1733-1813) mit "deutsch-patriotisch" wallendem Herzen die Ziele. Wieland bezog sich auf die "dermalige gesetzmäßige Konstitution" als "das einzige, was uns Deutsche zu einer Nation macht".

Doch damit sich Menschen mit einem Volk, einem Vaterland oder dessen Verfassung identifizieren, braucht es attraktive Merkmale der Gemeinsamkeit. Menschen kümmern sich eben bereitwilliger um Ihresgleichen als um Fremde. Die Patrioten setzten deshalb bald darauf, die besonderen Merkmale ihrer jeweiligen Heimat und ihrer Bewohner zu betonen. Während die Philosophen der Aufklärung noch Würde und gleiche Rechte für alle Menschen beansprucht hatten, betonten die Vertreter der romantischen Gegen-Aufklärung mit großem Erfolg gerade die Bedeutung einer unterschiedlichen Herkunft und Sprache und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk - einer "Schicksalsgemeinschaft".

Die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen und einer friedlichen aufklärerischen Revolution fiel in Europa nach der französischen Revolution den Koalitionskriegen und napoleonischen Kriegen zum Opfer. In Frankreich entwickelte sich ein besonderes nationales Bewusstsein der "Grandeur" (im Sinne von Größe und Herrlichkeit), manche Wissenschaftler wie der französische Soziologe Emile Durkheim konstatierten sogar eine "Säkularreligion der Nation", auch von "Sakralisierung" ist die Rede.

Missbrauchter Patriotismus

Im übrigen Europa betrachteten sich viele Idealisten dagegen als Kämpfer gegen eine französische Fremdherrschaft und für die Freiheit des Volkes im eigenen Vaterland. Diese Form der patriotischen Gesinnung nutzten die Monarchien in Europa, um die Bevölkerungen gegen die Franzosen zu vereinen, wie Heinrich Heine für die deutschen Ländern 1833 zusammenfasste:

"... man suchte in dieser Absicht den Gemeinsinn unter den Deutschen zu wecken, und sogar die allerhöchsten Personen sprachen jetzt von deutscher Volkstümlichkeit, vom gemeinsamen deutschen Vaterlande, von der Vereinigung der christlich-germanischen Stämme, von der Einheit Deutschlands. Man befahl uns den Patriotismus, und wir wurden Patrioten; denn wir tun alles, was uns unsere Fürsten befehlen."

Einige Jahre später diagnostizierte Heine in seinem Werk "Deutschland. Ein Wintermärchen" bei sich selbst die Vaterlandsliebe als törichtes Sehnen. "Ich spreche nicht gern davon; es ist nur eine Krankheit im Grunde."

In Großbritannien hatte eine "Sakralisierung" der Nation sogar schon vor der französischen Revolution begonnen, das belegt etwa der Erfolg einer Hymne wie "Rule, Britannia! Britannia rule the waves". In den Vereinigten Staaten prägte Anfang des 19. Jahrhunderts der Marineoffizier Stephen Decatur den Wahlspruch "right or wrong, our country".

Die Vorstellung von Patriotismus blieb unscharf und überall in Europa entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert daraus die Ideen von "Nationalgeist" und "Nationalcharakter", es breiteten sich "Nationalstolz" und schließlich "Nationalismus" aus. Die Liebe zum Vaterland ließ Soldaten begeistert in den Ersten und den Zweiten Weltkrieg ziehen, süß und ehrenvoll sollte es sein, für das Vaterland zu sterben. Und viele, die wir rückblickend als Nationalisten identifizieren, sahen sich selbst als Patrioten - ob es nun "Mit Gott für König/Kaiser/Volk/Führer und Vaterland" gegen den Rest der Welt ging, oder darum, aus der Idee der Völker völkisch-rassistisches Gedankengut zu entwickeln.

Aus dieser Entwicklung lässt sich eine Lehre ziehen: Die ursprüngliche Idee des Patriotismus ist an sich selbst gescheitert, weil sie die Dynamik menschlicher Gruppen ignorierte. Wer den Gemeinsinn in einer Gruppe stärken will, muss die Identifikation attraktiv machen und die Liebe zu dieser Gruppe anfeuern. Wer aber die "Eigengruppen"-Bindung stärkt, geht ein hohes Risiko ein: Sozialwissenschaftler haben immer wieder gezeigt, dass wenn die Bedeutung der eigene Gruppe erhöht wird, zugleich die Abgrenzung zu allen "Fremdgruppen" verstärkt wird.

Auf der Ebene von Volk und Vaterland wird diese Strategie besonders gefährlich. Patriotismus bildet so den fruchtbaren Boden für die Entwicklung des Nationalismus. Das bestätigen Studien von Sozialwissenschaftlern und Psychologen wie Wilhelm Heitmeyer und Christopher Chors: Patriotische Einstellungen fördern heute noch rechtes und nationalistisches Gedankengut.

Versuche, die Gruppenidentität und den Gemeinsinn auf nationaler Ebene zu fördern, aber die Risiken des Patriotismus zu vermeiden, waren bislang fruchtlos. Der Philosoph Jürgen Habermas etwa hat einen Verfassungspatriotismus vorgeschlagen, der sich auf die Identifizierung mit dem Grundgesetz und den Normen und Werten der Gesellschaft beschränken soll. Sich für die Art und Weise zu begeistern, wie Menschen zusammenleben, fällt aber offensichtlich leichter, wenn man sich zugleich auch für diese Menschen selbst - zu denen man sich schließlich auch zählt - begeistert. Die emotionale Bindung zwischen Menschen hat eine andere Qualität als die zu einem Dokument oder prinzipiellen Ansprüchen.

Kann es einen "linken Patriotismus" geben?

Der Grüne Robert Habeck hat vor einigen Jahren deshalb versucht, den Patriotismus einerseits zu seinen Ursprüngen zurückzuführen: "Patriotismus muss eine Idee vom guten Leben artikulieren - im besten Fall vom guten Leben in einer guten Gesellschaft", schreibt Habeck in seinem Buch "Patriotismus". Andererseits wünscht er sich statt einer Liebe zum Vaterland im mythischen oder völkischen Sinne eine Liebe zur Gesellschaft in diesem Vaterland.

Grundlage für seinen "linken Patriotismus" wäre ein "rationaler Gesellschaftsvertrag", aber auch eine emotionale Ansprache, die beim Verfassungspatriotismus vermisst wird. Der Habecksche Patriotismus soll von einem "Pathos der Zusammengehörigkeit" leben, einem "Wir-Gefühl". Dieses Gefühl aber soll nicht etwa Menschen gleicher Abstammung ansprechen, sondern alle, die sich mit dieser Gesellschaft identifizieren - was auch viele Migranten einschließen würde. Sein Patriotismus hätte deshalb "nichts mehr von seiner eigentlichen Bedeutung", so Habeck. Er denkt eher an "Fans" einer offenen Gesellschaft und Demokratie.

Seine Idee erinnert an die oben zitierte Ausführung des Dichters Wieland, in der der Historiker Heinrich August Winkler den frühesten Beleg für die Vorstellung von einem "Verfassungspatriotismus" sieht. Habeck setzt also weiterhin auf eine idealistische, aber historisch gescheiterte und offensichtlich gefährliche Strategie. Er fügt nur zu den "Ständen", die es unter den "Citoyens" nicht mehr geben soll, die Migranten hinzu und formuliert als linke Ziele etwa einen gezähmten Kapitalismus.

Es dürfte schwierig werden, Patriotismus, die Vaterlandsliebe, per Definitionem vom Vaterland zu trennen und als links zu etikettieren, wie es Habeck vorschwebt. Und Pathos, das feierlich-leidenschaftliche Ergriffensein, steht einer reflektierten Haltung eher entgegen. Nicht von ungefähr wird das zugehörige Adjektiv "pathetisch" nicht als Kompliment verwendet.

"Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau"

Selbst wenn sich Patriotismus und Nationalismus als Begriffe eindeutig voneinander trennen ließen - die Geschichte zeigt, dass das offensichtlich nicht für die Gefühle gilt, die mit ihnen zusammenhängen. Emotionen aber sind ein heikles Terrain. Gustav Heinemann (erst CDU, dann SPD) sprach deshalb als Bundespräsident 1969 zwar von Deutschland als Vaterland. Aber seine Gefühle sortierte er unpatriotisch. Ob er Deutschland denn nicht liebe, wurde er vor seiner Wahl gefragt. Seine berühmte Antwort im Spiegel: "Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!"

Wenn es darum geht, die Menschen für den Gemeinsinn und das Wohl der Mitmenschen zu begeistern, sollten die Frage nach Gruppenzugehörigkeiten außen vor bleiben. Die großen Errungenschaften der Menschheit sind keine Verdienste von Vaterländern. Es sind Verdienste von Menschen, die Gesellschaften organisiert haben, in denen die notwendigen Entwicklungen möglich waren. Sie beruhen auf der menschlichen Vernunft. Statt auf Herkunft, Religion oder gar auf "Rasse" stolz zu sein, sollte man sich für das Potenzial begeistern, das offensichtlich im Menschen steckt.

Wenn Menschen aber Pathos brauchen: Warum nicht stolz sein auf Freiheit, Gleichberechtigung, Chancengleichheit und den technischen Fortschritt? Und die Welt ist angesichts der Globalisierung, des Internets, der globalen Bedrohungen durch Klimawandel und - wieder - Atomkrieg zum sprichwörtlichen Dorf geworden. Seine Bewohner stehen vor Herausforderungen, die alle angehen und die alle gemeinsam angehen müssen.

Vielleicht führt die Liebe zur Heimat dazu, dass Menschen lieber "lokal handeln". Wer aber einmal die Aufnahmen gesehen hat, die die Astronauten vom Mond aus gemacht haben, versteht: Unsere Heimat heißt Erde.

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