Passiver Protest in Istanbul:Der stehende Mann vom Taksim-Platz

People stand during a silent protest at Taksim Square in Istanbul

Der stehende Mann (duran adam) vom Taksim-Platz: der türkische Choreograf Erdem Gündüz.

(Foto: Reuters)

Ein Mann steht still auf dem Taksim-Platz und starrt auf die türkische Fahne und auf ein Porträt Atatürks - über Stunden hinweg. Seine Form des Protests wird im Internet begeistert aufgenommen und es gibt zahlreiche Nachahmer, weltweit und in Istanbul. Dort greift die Polizei ein, Anti-Terror-Einheiten nehmen Dutzende Aktivisten in ihren Wohnungen fest.

Er steht einfach da, sagt nichts und starrt auf die türkische Fahne und auf ein Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk - etwa sechs Stunden lang, wie die englische Ausgabe der türkischen Hürriyet meldet. Binnen weniger Stunden gingen die Bilder und Berichte über den stillen Protest des stehenden Mannes (türkisch: duran adam) auf dem Istanbuler Taksim-Platz via Twitter (Hashtag #duranadam bzw. #standingman) um die Welt.

Bald kam auch der Hashtag #duranadamyalnızdursun hinzu, unter dem die Twitterer forderten, den stehenden Mann in Ruhe zu lassen:

Offenbar war der Choreograf Erdem Gündüz mehrere Stunden unbemerkt in seiner stehenden Position verharrt, bevor er von Umstehenden auf dem Taksim-Platz wahrgenommen wurde. Als sich andere Demonstranten seiner Form des Protests anschließen wollten, seien sie von der Polizei abgeführt worden, meldeten Aktivisten.

Auch der stehende Mann selbst soll von der Polizei durchsucht und befragt, dann aber wieder freigelassen worden sein, heißt es unter anderem auf CTV News. Hürriyet Daily News berichtete von einer Schauspielerin, die sagte, Gündüz sei ihr Mitbewohner und plane, seinen Protest einen Monat lang fortzusetzen. Der zivile Ungehorsam des Mannes fand auch in anderen Städten und sogar Ländern Nachahmer, so unter anderem in Ankara und Stuttgart.

Auf dem Taksim-Platz blieb es bis auf die Geschehnisse um den stehenden Mann weitgehend friedlich in dieser Nacht. Schon bei Einbruch der Dunkelheit hatten nur noch einige Dutzend vorwiegend junge Menschen am Rande des Platzes demonstriert. Sie skandierten Parolen, sangen und tanzten, wie Augenzeugen berichteten. Polizisten hatten Gasmasken und Helme abgesetzt und bildeten keine Blockadereihen mehr. Der Taksim-Platz selber war für Fußgänger und den Verkehr offen.

Dennoch scheint es mit der harten Linie, die die Regierung von Recep Tayyip Erdogan gegen die regierungskritischen Demonstranten fährt, nicht vorbei zu sein. Anti-Terror-Einheiten durchsuchten am Dienstagmorgen Wohnungen in Istanbul, Ankara und Eskişehir. Die Polizei habe 90 Mitglieder der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (Ezilenlerin Sosyalist Partisi, ESP) in ihren Wohnungen festgenommen. Das teilte die Istanbuler Staatsanwaltschaft mit. Die Fernsehsender NTV und CNN-Türk berichteten zudem, die Polizei habe die Büros der Zeitung Atilim und der Nachrichtenagentur Etkin durchsucht, die beide der Partei nahestehen. Außerdem habe es Einsätze in 18 weiteren Provinzen des Landes gegeben.

Zunächst war nicht klar, was genau den Festgenommenen vorgeworfen wird. Regierung und Behörden hatten in den vergangenen Tagen erklärt, es sei bekannt, wer die Demonstrationen mitorganisiert und unterstützt habe, und Strafverfolgung angekündigt. Aus Polizeikreisen hieß es, nur Provokateure seien zu Vernehmungen abgeführt worden.

Roth fordert "klare Worte" der Nato

Am Montag hatte die türkische Regierung erstmals mit einem Einsatz der Armee gegen die Protestbewegung gedroht. Falls es nötig sei, würden auch die Streitkräfte eingreifen, sagte Vize-Regierungschef Bülent Arınç. "Die Polizei ist da. Wenn das nicht reicht, die Gendarmerie. Wenn das nicht reicht, die türkischen Streitkräfte", fügte er am 18. Tag der Proteste hinzu. Die Regierung werde alles Nötige unternehmen, um das Gesetz durchzusetzen.

Angesichts der Drohung mit dem Militär forderte die Grünen-Parteichefin Claudia Roth klare Worte der Nato. "Das Militärbündnis muss politisch Einfluss nehmen und deutlich machen, dass es nicht akzeptiert, wenn die türkische Regierung mit der Armee droht und brutal mit den Sicherheitsbehörden vorgeht", sagte Roth, die am Samstag selbst die Stürmung des Gezi-Parks miterlebt hatte, der Saarbrücker Zeitung. Schließlich sei die Türkei Mitglied des Bündnisses.

Die landesweite Protestwelle hatte sich an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park in unmittelbarer Nachbarschaft des Taksim-Platzes entzündet, das am Wochenende zum zweiten Mal geräumt wurde. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne mit Wohnungen, Geschäften oder einem Museum. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Erdoğan.

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