Passau:Irrsinn

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In der Nacht zum Donnerstag: Flüchtlinge müssen im Freien bleiben und frieren. München, in der Nacht zum Donnerstag: Das Quartier ist aufgebaut, bleibt aber leer. Über einen bösen Verdacht.

Von Andreas Glas, Passau

Es gibt kein warmes Zelt, aber es gibt Büsche am Donauufer. Also brechen sie die Zweige aus den Büschen und werfen die Zweige ins Feuer. Sie sitzen zu acht um eine Flamme, manchmal zu zehnt oder zu zwölft. Alle paar Meter brennt ein Häuflein aus dürren Ästen, zerschlissenen Schuhen, leeren Plastikflaschen. Seit Tagen gleichen sich die Bilder am Grenzübergang Passau-Achleiten, seit Tagen ist die Rede davon, dass die Österreicher ein Zelt aufbauen werden. Aber wenn es Nacht wird, dann hocken die Flüchtlinge doch wieder ums Lagerfeuer oder frieren zu Hunderten zwischen den Absperrgittern, die wie ein Spalier vor dem blauen Schild mit den gelben Sternen und dem Schriftzug "Bundesrepublik Deutschland" stehen.

Mehr als 6500 Flüchtlinge sind in der Nacht zum Donnerstag wieder über die Grenzübergänge im Raum Passau gekommen. Sie kommen mit dem Zug über den Hauptbahnhof oder werden von der österreichischen Polizei mit Bussen direkt an die Grenzen in Wegscheid, in Simbach, in Achleiten gekarrt. Sie steigen aus einem österreichischen Bus aus, um ein paar Stunden später wieder einzusteigen, dann in einen deutschen Bus. Und dazwischen müssen sie frieren, bei fünf Grad, und es wird ja immer kälter. "Ein Irrsinn", sagt ein bärtiger Bundespolizist, er steht auf der deutschen Seite der Grenze, vor ihm drängeln sich Männer, Frauen, Kinder, eingewickelt in Decken, die Kapuzen ins Gesicht gezogen. "Wenn das so weitergeht", sagt der Polizist, "dann garantiere ich, dass spätestens im Dezember der erste erfriert."

Bis jetzt ist es der Bundespolizei immer gelungen, alle Flüchtlinge unterzubringen. Auch am Donnerstag wieder, bis zum Abend wurden abermals 6500 Neuankömmlinge erwartet. Dafür hat die Stadt Passau erneut die Dreiländerhalle geöffnet, wo sonst Messen und Konzerte stattfinden und wo zurzeit 1500 Menschen die Nächte verbringen. Auf dem harten Hallenboden, aber das ist immer noch besser, als an der Grenze zu frieren. Das Problem: In ein paar Tagen muss die Halle geräumt werden, dann wird aus der Dreiländerhalle "die größte Partymeile Niederbayerns", wie es auf der Internetseite des Kneipen-Festivals heißt, das in der kommenden Woche dort stattfinden wird. Es ist eine absurde Vorstellung: In der Halle tanzen Tausende Passauer, während an der Grenze immer mehr Flüchtlinge die Nacht in der Kälte ausharren müssen.

Die Halle in Passau kann noch ein paar Tage genutzt werden. Dann wird eine "Partymeile" daraus

Noch absurder wirkt es, wirft man einen Blick in die Notunterkünfte am Hauptbahnhof in München. Während in Passau die Schlafplätze ausgehen, stehen in München die Hallen leer. Es ist alles aufgebaut, die Bierbänke stehen, aber die einzigen, die auf den Bierbänken sitzen, sind die Helfer, die nach wie vor 24 Stunden in Bereitschaft sind. "Das ist unerklärlich", sagt Jürgen Dupper (SPD), der Passauer Oberbürgermeister. Vor zwei Wochen, sagt Dupper, habe ihm Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) versprochen, den Münchner Hauptbahnhof wieder als Drehkreuz für die Verteilung der Flüchtlinge zu öffnen. "Aber vom Drehkreuz München kann ich nichts erkennen", sagt Dupper, "da kann ich schon verstehen, dass die Helfer Fragen stellen."

Die Flüchtlinge versuchen, mit ihrer Lage klarzukommen, hier auf dem Bahnhofs-Gelände. (Foto: Sean Gallup/Getty)

Einer dieser Helfer ist Collin Turner, der Sprecher der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer am Münchner Hauptbahnhof. Dass die Menschen an den Grenzen frieren, während die Notunterkünfte in München leer stehen, kann auch er nicht verstehen. Es sei nur ein Gedanke, sagt Turner, "aber es erweckt bei uns den Eindruck, dass politisches Kalkül der bayerischen Staatsregierung dahinter steckt, dass Bilder der Überforderung geschaffen werden, um eine Rechtfertigung zu haben, die Grenzen zu schließen". Es ist ein übler Verdacht, aber einer, den man in diesen Tagen öfter hört. Nicht nur in München, auch die Helfer in Passau, selbst manchen Bundespolizisten treiben solche Gedanken um.

Von politischem Kalkül will Margarete Bause zwar nicht sprechen - "aber dass die CSU abschreckende Botschaften und Bilder bewusst produziert, das wissen wir ja schon lange", sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im bayerischen Landtag. "Warum man die Leute nicht schon in Österreich in die Züge setzt und direkt nach München schickt, das ist für mich nicht nachvollziehbar." Das bayerische Innenministerium wiederum versichert, es stecke "kein böser Wille und kein politisches Kalkül" hinter dem System der Flüchtlingsverteilung. Es sei organisatorisch einfach "nicht sinnvoll", in Passau und München "eine Doppelstruktur aufzubauen", sagt ein Sprecher des Ministeriums.

Auch der Passauer OB will niemandem unterstellen, Flüchtlinge frieren zu lassen, um Abschreckungspolitik zu betreiben. Aber verstehen kann er trotzdem nicht, dass anderswo Unterkünfte leer stehen, dass sich Bund und Freistaat nicht kümmern, dass die Menschen wenigstens in der Nacht ein Dach über dem Kopf haben. "Es wird alles seinen Grund haben", sagt Jürgen Dupper, "nur leider kennen wir diesen Grund nicht."

© SZ vom 30.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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