Parteitag in Liverpool:Die Labour-Führung hat Angst vor den Brexit-Fans

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Labour-Chef Jeremy Corbyn (hier hinter dem sogenannten "Schatten-Schatzkanzler" John McDonnell auf dem Labour-Parteitag) hält ein neues Brexit-Votum für keine gute Idee. (Foto: Getty Images)
  • Labour-Chef Corbyn hat sich auf dem Parteitag nicht dazu durchringen können, die innerparteiliche Debatte um ein zweites Brexit-Votum zu öffnen.
  • Ein bei Beratungen erzielter Kompromiss folgt Corbyns Linie: Eine neue Brexit-Abstimmung soll nur dann ins Auge gefasst werden, wenn es Labour nicht gelingt, Neuwahlen durchzusetzen.
  • Der Streit, der sich durch die sozialistische Partei zieht, ist repräsentativ für die Stimmung im Land: Etwas muss geschehen. Nur was?

Von Cathrin Kahlweit, Liverpool

Die Befürworter eines zweiten Referendums in der Labour-Partei sind sauer. Vor dem Parteitag in Liverpool hatte es so ausgesehen, als würde die Führung um Jeremy Corbyn dem wachsenden Druck der Basis nachkommen und die Forderung nach einem "people's vote", einem neuen Votum über den Brexit, zur Abstimmung stellen. Damit wäre das Verlangen nach einer Volksabstimmung womöglich zur neuen Parteilinie geworden. Er werde sich dem Mehrheitsvotum beugen, hatte Corbyn vor dem Parteitag angekündigt.

Aber er hat sich nicht durchringen können, die Debatte wirklich zu öffnen. Die Labour-Führung hat Angst vor den Brexit-Fans. Und Angst davor, von der eigenen Basis in eine Richtung gedrängt zu werden, welche die Parteiführung für falsch hält. Corbyn beschwört die innerparteiliche Demokratie, aber den Trend in der eigenen Partei, den Brexit noch verhindern zu wollen, will er aus Überzeugung und aus wahltaktischen Gründen aufhalten.

In der Nacht zu Montag hatten etwa hundert hochrangige Mitglieder gemeinsam mit der Parteispitze fünf Stunden lang um eine Formulierung gerungen, die dem Parteitag am Dienstag zur Abstimmung vorgelegt wird. Der Streitpunkt: Wie umgehen damit, dass immer mehr Ortsvereine, Parteigruppierungen, Gewerkschaften, Anhänger ein zweites Referendum wollen?

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Die Befürworter eines zweiten Referendums über den Brexit gewinnen an Zulauf und Zustimmung. Die Regierung will ein erneutes Votum verhindern, aber womöglich wird die Labour-Partei sie dazu zwingen.

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Herausgekommen ist ein Formel-Kompromiss, den ein enttäuschter Brexit-Gegner als "Mini-Schritt" bezeichnet. Es ist eine Wenn-Dann-Lösung: Wenn es Labour nicht gelingt, Neuwahlen durchzusetzen und dann den Brexit neu zu verhandeln, bleibt eine neue Abstimmung "auf dem Tisch". Kein Wunder: Corbyn hat sich bisher immer für Neuwahlen ausgesprochen und wollte einen "people's vote" nur als letztes Mittel akzeptieren. Es hat also keinen grundlegenden Kurswechsel gegeben.

Die Remainer hatten sich eine "Ja-Nein-Formel"-gewünscht: Ja, wir sind für ein zweites Votum. Und nein, es ist nicht das letzte Mittel, sondern sollte baldmöglichst durch eine Parlamentsabstimmung erzwungen werden. Trotzdem haben sie dem Kompromiss zugestimmt; dies sei ja nur der Anfang, sagen sie. Denn immerhin werde nun, mehr als zwei Jahre nach dem Referendum, das erste Mal im großen Rahmen auf einem Labour-Parteitag über einen Weg debattiert, wie man den Brexit aufhalten könnte. Der Druck werde wachsen, sagen viele, und letztlich werde sich auch Corbyn dem nicht verschließen können.

Die Parteispitze hingegen fürchtet nach wie vor, all jene in der Partei zu verschrecken, die für Leave, für einen Abschied aus der EU, gestimmt haben. Würde sich die größte Oppositionspartei nun für einen zweiten Anlauf aussprechen - und womöglich auch noch zustimmen, dass ein Verbleib in der EU auf dem Stimmzettel stünde, würden das die Brexit-Fans unter den Anhängern als Verrat verstehen, so die Überlegung.

Chancen und Risiken eines zweiten Brexit-Votums

Hier immerhin haben sich die Remainer durchgesetzt: Was letztlich auf dem Stimmzettel stehe, müsse natürlich in Zukunft verhandelbar sein; schließlich sei ein Sinn eines neuen "people's vote", das Ergebnis der ersten Abstimmung zu drehen. Die Umfragen zeigten zudem, sagen sie, dass der Zulauf für Labour riesig wäre, wenn die Partei sich endlich dazu bekennen würde, dass der Brexit ein Fehler war. Mit einem Bekenntnis zu einem zweiten Referendum könnten also im zweiten Schritt sogar Neuwahlen gewonnen werden.

Der Streit, der sich durch die sozialistische Partei zieht, ist repräsentativ für die Stimmung im Land: Wir rasen auf eine Klippe zu, etwas muss geschehen. Nur was? Es ist unbestritten, dass eine zweite Abstimmung auch enorme Risiken bergen würde. Ihre Legitimation wäre hoch umstritten; schließlich hat sich das Volk schon einmal geäußert. Und: Was soll überhaupt gefragt werden? Was, wenn es wieder so knapp ausginge wie beim ersten Mal, nur mit umgekehrten Vorzeichen? Die Vorbereitungen würden Monate dauern, obwohl die Zeit drängt. Immerhin: Käme es dazu, würde der Brexit im März 2019 aufgeschoben. Es wäre eine Atempause.

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