Parteitag in Leipzig:Grünes Wechselbad der Stimmungen

Parteitag in Leipzig: Annalena Baerbock am Parteitag zwischen Jubel und Ernst.

Annalena Baerbock am Parteitag zwischen Jubel und Ernst.

(Foto: Jens Meyer/AP)

Die Grünen feiern auf dem Parteitag sich und ihre Wahlsiege. Die Parteispitze will den Schwung nutzen und ihrer neuen Rolle gerecht werden. Die gefällt nicht jedem.

Von Stefan Braun, Leipzig

Auf den kleinen Gag hat er sich sehr gefreut. Der Witz liegt ja auch irgendwie auf der Hand. Als Michael Kellner kurz vor Beginn des Leipziger Parteitags den ersten Programmpunkt ankündigt, erklärt der grüne Bundesgeschäftsführer, die Partei habe nun lange genug Erfahrungen mit diesem und jenem Parteiflügel gesammelt. Dieses Mal werde sie einen ganz neuen Flügel erleben.

Was folgt ist kein Streit zwischen Linken und Realos. Die Helfer schieben einen echten Flügel auf die Bühne. Es ist das Musikinstrument des Pianisten Igor Levit. Europawahlkampf - das ist das Thema. Und die neuen Grünen beginnen ihn mit einem Musikstück. Der Ode an die Freude, ganz leise.

Die neuen Grünen? Nun ja, es sind schon noch die gleichen. Aber die Anmutung der Partei hat sich verändert. Nicht, weil die Zahl der strickenden Menschen auf den Parteitreffen von Mal zu Mal abnimmt. Entscheidend ist zurzeit etwas anderes: Dass sich die Grünen auf fast pietistische Weise bescheiden verhalten.

Natürlich feiert die Co-Vorsitzende Annalena Baerbock, kaum hat sie am Freitagabend die Bühne betreten, ihre Wahlsieger aus Bayern und Hessen. Und natürlich freut sie sich erkennbar, dass der Rückenwind seither nicht abnimmt. Aber es sind nur ein paar Minuten, bis Baerbock erklärt, dies werde ein "Arbeitsparteitag", auf dem man, ja, "auch ein bisschen feiern" dürfe, dann aber vor allem große Antworten geben müsse.

Antworten auf die Pläne der EU-Kommission; Antworten auch auf die Vorschläge des französischen Präsidenten. Antworten vor allem auf die Frage, warum es richtig ist, für ein starkes Europa zu kämpfen.

Um das zu begründen, beginnt Baerbock, von ihrem Großvater zu erzählen. Der habe als Soldat kurz vor Ende des Krieges ganz in der Nähe im Schützengraben gelegen. Das zeige wie sonst nichts, worum es immer noch und wieder gehe. "Europa ist das größte Friedensprojekt der Welt", ruft sie in die Halle. Und spätestens jetzt ist sie dort, wo es nicht fröhlich, sondern ernst zugeht.

Der Beifall ist groß und doch kommt kaum Wärme auf, was auch an dieser riesigen Messehalle von Leipzig liegen dürfte. Sie ist dermaßen weitläufig, dass man - wäre hier eine Fete - die Hälfte der Gäste vermissen würde. Nüchtern geht's zu, Arbeitsparteitag eben.

Dazu passt, dass Baerbock manche Gewissheit hervorhebt, beispielsweise wenn sie Waffenexporte nach Saudi-Arabien geißelt. Aber sie ist ganz schön mühsam für die meisten, jedenfalls für jene, die sich hier am liebsten nur bejubelt hätten.

Leichter ist es, als sie die Finanzmärkte bändigen möchte; kompliziert wird es, als sie für ein starkes Europa mehr Verteidigungsbereitschaft anmahnt. "Europa muss endlich Weltpolitik-fähig werden", verlangt die Parteichefin - und erntet mehr Skepsis als Beifall. Also schiebt sie hinterher, dass der Kontinent natürlich eine Friedensmacht sein müsse. Das beruhigt das Publikum, es applaudiert doch noch.

Nicht nur Jubel

Nicht viel anders läuft es, als Baerbock von ihrem Chemnitz-Erlebnis berichtet. Sie erzählt, wie sie nach der Gegendemo plötzlich einer Hundertschaft der Polizei begegnet - und darauf erleichtert bis glücklich reagiert. Das Gewaltmonopol des Staates zu akzeptieren, sei den Grünen nicht gerade in die Wiege gelegt worden, sagt Baerbock. "Aber auch das ist jetzt unser Job", erklärt die Parteichefin. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass das noch nicht alle schlucken, als ein bisschen Applaus aufkommt.

Es ist immer noch eine ganz neue Rolle, wenn die Grünen das Grundgesetz verteidigen, für die Werte der Republik eintreten und das konsequenterweise auch ins Zentrum ihres Europawahlkampfs stellen werden. Dafür gibt es nicht nur Jubel. Und daran ändert sich auch dann kaum etwas, wenn Baerbock es mit der Einsicht verbindet, dass ein Erfolg in diesem Kampf nur möglich ist, wenn die Menschen sich auch sozial, ökonomisch, beruflich sicher fühlen. Weltoffenheit und die soziale Frage in Europa gehörten zusammen, erklärt die Grünen-Chefin. Und das, da dürfe sich niemand etwas vormachen, werde man nicht nur auf schöne Wahlplakate schreiben können. Es werde auch einfach viel Geld kosten.

Kein Jubel, eher leise Zustimmung. Leichter wird es erst, als Baerbock die Ausdauer der grünen Protestler rund um den Hambacher Forst bejubelt. Toll sei das gewesen und habe wunderbare Konsequenzen: "Hambi bleibt und Bambi bleibt auch", ruft sie. Und weil an der Stelle der ganze Parteitag aufsteht, bleibt halt irgendwie unerwähnt, dass es auch Grüne waren, die der Abforstung einst mal zugestimmt hatten.

Es ist ein Wechselbad der Stimmungen an diesem ersten Abend, inszeniert von oben, choreografiert von der Parteichefin. Das ist alles andere als nur Schokolade für alle. Aber es passt ziemlich gut zu dem, was die Parteispitze vorhat.

Umrahmt wird es von einem bejubelten Pianisten, der nicht nur am Flügel spielt, sondern auch ein paar klare Botschaften parat hat. Levit, der aus Russland stammt und Jude ist, erzählt, wie er nach seinem allerersten Schultag in Deutschland seiner Mama erklärte, dass er besser als jeder andere Deutsch lernen wolle. Und er beschreibt, wie ihn das Zitat von Horst Seehofer über die Migration als "Mutter aller Probleme" unglaublich verletzt hat.

Europa, so Levit, das sei seine Heimat. Er kämpfe dafür, er ringe damit, er leide manchmal und liebe es. "Deshalb mag ich es nicht, wenn dieses Europa von lügenden Spaltern in die Mülltonne getreten wird." Harte Worte von einem, der am Flügel meist mit leisen Tönen auftritt.

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