Süddeutsche Zeitung

Parteiengeschichte:Schneisen im Dickicht

Der Göttinger Politologe Franz Walter durchleuchtet politische Ideen - eine Aufgabe, die gerade in Zeiten der Jamaika-Verhandlungen lohnt. Ein Schwerpunkt liegt wie immer auf der SPD, doch auch die Essays zum Liberalismus sind beeindruckend.

Von Isabell Trommer

Wer über die SPD nachdenkt, kurz oder lang, kommt an Franz Walter nicht vorbei. Er hat die Biografie der Partei geschrieben, die Transformationen der Sozialdemokratie und die Auflösung ihres Milieus mit seinen Kommentaren begleitet. Seine Analyse versteift sich nicht allein auf das Übel der großen Koalitionen, laut Walter nahm die Krise in den Siebzigerjahren ihren Anfang, unter der rot-grünen Regierung verschärfte sie sich bekanntlich.

In "Rebellen, Propheten und Tabubrecher" hat der Göttinger Politikwissenschaftler nun Essays versammelt, die durch die politischen Ideen und sozialen Bewegungen des 20. und des 21. Jahrhunderts führen. Darin finden sich politische Lebensläufe von Liberalen, Linken und Konservativen, wobei das Spektrum vom kritischen Theoretiker Herbert Marcuse über den Juristen Hermann Heller bis zum Reichskanzler Heinrich Brüning und zum Bundespräsidenten Karl Carstens reicht. Die Texte weisen natürlich über das Biografische hinaus, am Ende geht es um all die großen politischen Ideen, Krisen und Neubeginne der vergangenen hundert Jahre. Das Buch ist eine deutsche Bewegungs- und Parteiengeschichte, das die großen Linien im Blick hat. Da ist etwa das Stück über das sächsische Freital: Es war in den Zwanzigerjahren eine SPD-Hochburg mit expansiver Wohnungs- und Gesundheitspolitik und einem öffentlichen FKK-Bad. Bei den jüngsten Kommunalwahlen erreichte die SPD noch zehn Prozent. 2015 war dort die Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterbringung besonders groß.

Dieser Tage, da viel über die Krise der Sozialdemokraten, aber noch mehr über die Wiedergeburt der FDP geredet wird, sollte man gerade auch Walters Texte über den politischen Liberalismus lesen. Er erinnert an die Sechziger- und Siebzigerjahre, als noch über einen sozialen Liberalismus diskutiert wurde und der Jugendverband der Mutterpartei einheizte. 1982 ging die FDP wieder mit der CDU zusammen. Spätestens jetzt setzte sich die Überzeugung durch, alles hänge von der Wirtschaft ab. Das habe die FDP seither, so Walter, mit "dogmatischen Marxisten" gemein.

Auf den ersten Blick mag die Sammlung disparat erscheinen, doch Walters präzise Analysen, sein Sinn für biografische Feinheiten halten es zusammen. In Wahrheit erzählt dieses Buch viele politische Entwicklungsromane. Was Franz Walters Texte lesenswert macht, ist der sachliche und doch gewitzte Ton, der nie etwas ausstellt.

Der Wissenschaftler führt durch das unübersichtliche Gelände zwischen dem politischen Neubeginn, den etwa so manch eine Jugendbewegung verkörpert hat, und dem oft ernüchternden Ende des Ganzen. Der "Glaube an eine mögliche Gegenwelt" sei nötig, um die "fromme Naivität und Furchtlosigkeit" zu nähren, "die man wohl braucht, um die wilden Kämpfe und Mühen auf den langen Märschen der großen Transformation auf sich zu nehmen". Man müsse also vom richtigen Weg überzeugt sein, um Wandel zu erreichen: "Aber wer wäre sich da gegenwärtig auch nur noch ein bisschen sicher?" Das ist die Melancholie dieses Buches - und seine Deutung der Gegenwart.

Franz Walter: Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2017, 397 Seiten, 35 Euro.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2017
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