Ostern ist das Fest der Auferstehung, und fast konnte man in den vergangenen Wochen den Eindruck gewinnen, dass ein solches Fest auch in den deutschen Parteien gefeiert wurde. In Interviews, bei Pressekonferenzen, auf Parteitagen - überall sprachen führende Politiker von "Erneuerung". Andrea Nahles, die designierte Chefin der Sozialdemokraten, will sie "mit aller Kraft vorantreiben", CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer verspricht einen Prozess "von der Basis bis an die Spitze". Was von solchen Ankündigungen zu erwarten ist, bleibt aber bisher unklar. Zeit also, nachzufragen.
Thomas Poguntke, 58, beschäftigt sich mit Reformprozessen von Parteien. Er ist Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Direktor des Instituts für Parteiforschung PRuF.
SZ: CDU, Grüne, SPD, FDP - Politiker fast aller Parteien haben in letzter Zeit viel von "Erneuerung" geredet. Und sie haben kaum erklärt, was sie damit meinen. Können Sie uns helfen?
Poguntke: Im politikwissenschaftlichen Sinne meint die Erneuerung einer Partei zwei Dinge. Erstens eine programmatische Diskussion, die zumindest partiell zu einem Richtungswechsel führt. Zweitens ein neues Führungspersonal. Dabei müssen nicht alle Leute ausgetauscht werden, aber zumindest ein paar neue Köpfe sind nötig. Mit dem Begriff "Erneuerung" muss man aber vorsichtig sein, er ist in gewisser Weise missverständlich. Denn Parteien können sich in der Regel nur schrittweise verändern, nicht radikal.
Warum nicht?
Parteien funktionieren ganz anders als Unternehmen. Letztere lassen sich viel besser von oben steuern. Als Manager können Sie ein Unternehmen auch mal grundlegend umkrempeln, weil die Mitarbeiter gewissermaßen dafür bezahlt werden, dass sie mitziehen. Parteien sind viel stärker auf den guten Willen ihrer Mitglieder und ihrer Kernwähler angewiesen. Diese haben sich oft über lange Zeit an bestimmte Strukturen gewöhnt. Die Parteiführung darf sie nicht vergrätzen. Anders als in der Wirtschaft können Sie auch nicht bestimmte, ungeliebte Unternehmensteile abstoßen. Die SPD kann die Jusos nicht an die Linkspartei verkaufen, auch wenn sie es vielleicht gern täte ( lacht).
Wenn sich Parteien also eigentlich nicht erneuern können, warum sprechen dann gerade so viele Politiker davon? Andrea Nahles zum Beispiel bei der SPD, Annegret Kramp-Karrenbauer bei der CDU. Christian Lindner hat die FDP ja auch gerade erst als frisch erneuert verkauft.
Der Hauptgrund ist der Leidensdruck, den insbesondere die Volksparteien spüren. Ihre Stimmenverluste sind massiv, man muss ja "Volksparteien" schon in Anführungszeichen setzen. Selbst die große Koalition konnte gerade noch ganz knapp die Kanzlerin wählen. Grund dafür ist ein Phänomen, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas auftritt: Die Unterstützung für die Idee der Parteienregierung schwindet, immer weniger Leute halten sie für kompetent. Das erklärt den Aufstieg charismatischer Einzelkämpfer wie Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich.
Und die Parteien ...
... versuchen jetzt, durch Profilschärfung und neue programmatische Ideen Stimmen zurückzugewinnen. In diesem Sinne sind die Erneuerungsdebatten auch Versuche, ein Mittel gegen Politikverdrossenheit zu finden.
Kann das funktionieren?
Wenn man es richtig macht. Die Parteien müssen zumindest teilweise einlösen, was sie ankündigen. Erneuerungsversprechen können sonst gefährlich sein. Es könnte sich das Gefühl festsetzen: Die reden immer nur, aber liefern nicht wirklich. Sehr viel ist davon abhängig, wie gut die politischen Eliten ihren Job machen. Klappt das nicht, droht möglicherweise eine Situation wie gerade in Italien, wo zwei Drittel der Wähler irgendeine der populistischen Parteien gewählt haben. Das wäre für Deutschland verheerend. Italien zeigt aber auch, dass man innerhalb einer Partei nicht zu harsch reformieren darf. Matteo Renzi hat den Partito Democratico, die italienischen Sozialdemokraten, zu schmerzhaften Veränderungen gezwungen - und ist letztlich darüber gestürzt.
Kann am Ende eines solchen Prozesses also auch die Auflösung einer Partei stehen statt der Erneuerung? Viele Sozialdemokraten schauen ja gerade ängstlich nach Frankreich, wo die einst stolzen Sozialisten nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.
Wenn man sich die Wahlergebnisse der SPD über längere Zeiträume anschaut, dann besteht diese Gefahr durchaus. Der niederländischen Arbeiterpartei PvdA geht es derzeit auch nicht anders als den französischen Kollegen. Man darf aber nicht vergessen, dass Deutschland anders funktioniert als manche Nachbarländer. In Frankreich war die Wählerzustimmung für eine Partei oder Bewegung schon immer viel flüchtiger als in der Bundesrepublik, wo die großen Parteien stärker in Parlamenten und Kommunen verankert sind.
Nochmal zurück zur "Erneuerung": Die Politiker, die sie jetzt versprechen - nehmen wir nochmals Nahles und Kramp-Karrenbauer - sind oft seit Jahrzehnten in ihrer Partei und waren schon in vielen Führungspositionen. Wie glaubwürdig können solche Persönlichkeiten einen Neuanfang - in den Grenzen, die Sie beschrieben haben - verkörpern?
Die Frage ist berechtigt. Parteien können sich personell im Wesentlichen nur aus sich selbst heraus verändern, insofern ist die "Erneuerung" auch hier ein relativer Begriff. Eine gewisse politische Erfahrung ist eigentlich unverzichtbar. Das konnte man auch am Missverständnis der SPD mit Martin Schulz sehen, dem die bundespolitische Erfahrung offensichtlich gefehlt hat. Brüssel ist ein anderes Biotop als Berlin. Es gibt Ausnahmen, meistens jedoch haben Quereinsteiger große Probleme. Aber gerade ist schon etwas Dynamik zu sehen. Es sind ja einige junge Politiker in die erste Reihe aufgerückt, siehe der neue Gesundheitsminister Jens Spahn.
Gerade junge Politiker reden viel von Erneuerung, neben Spahn könnte man etwa auch Juso-Chef Kevin Kühnert nennen. Wollen solche Leute vielleicht einfach nur selbst befördert werden?
Einzelfälle kann ich nicht beurteilen, aber Karriereambitionen spielen bei solchen Forderungen sicherlich auch eine Rolle. " Erneuerung" ist für Nachwuchspolitiker und die bisherige zweite Reihe ein gutes Stichwort, um sich in Position zu bringen. Das zeigte sich auch in der Regierungsbildung. Umgekehrt können die derzeitigen Debatten aber auch ein strategisches Kalkül der Parteiführungen sein.
Inwiefern?
Sie geben den Mitgliedern eine Beschäftigung. Sehen Sie sich zum Beispiel den Grundsatzprogrammprozess an, den die CDU gerade eingeläutet hat: Die Parteibasis soll sich in die Diskussion einbringen. Die Hoffnung dahinter dürfte sein, dass die Kanzlerin und die CDU-Minister in Ruhe regieren können, während die Positionskämpfe in der Migrations- und Sozialpolitik auf Parteiebene ausgefochten werden.
Gibt es ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte, bei der einer Partei eine tiefgreifende Veränderung geglückt ist?
Das berühmteste Beispiel ist die SPD mit dem Godesberger Programm von 1959, in dessen Folge auch viele Nicht-Arbeiter in die Partei eingetreten sind. So viele, dass die Partei heute keine Arbeiter-, sondern eine Mittelschichtspartei ist. Die SPD hat sich völlig neue Wählerschichten erschlossen.
Ähnliches erleben wir bei den Grünen, die sich immer stärker der politischen Mitte zuwenden. Die Offenheit der Grünen, mit nahezu jeder Partei auf Länderebene koalieren zu können, auch mit der CDU, ist eine relativ neue Entwicklung. Ein weiteres Beispiel dafür wäre "New Labour" unter Tony Blair in Großbritannien. Solche Prozesse sind aber sehr langwierig, sie dauern oft mehr als zehn Jahre.
Das ist eine lange Zeit.
Allein deswegen muss man die aktuellen Versprechen der Parteiführungen mit Vorsicht genießen. Es wäre ein Fehler, zu erwarten, dass sich die SPD oder die CDU in zwei Jahren grundlegend verändert haben.
Und die FDP? Nach dem Sturz aus dem Bundestag 2013 kam sie doch im Wahlkampf 2017 recht frisch daher.
Die FDP hat ihr Image erneuert und spricht ihre Wählerschaft nun anders an. Und sie hat ihre Strukturen sehr stark auf Parteichef Christian Lindner zugeschnitten. Inhaltlich weiß man aber noch nicht so richtig, in welche Richtung es eigentlich geht. Schauen Sie sich das Grundsatzprogramm an: Es stammt von April 2012, also noch aus der Zeit, bevor die FDP aus dem Parlament flog. Bei den Inhalten muss die Partei erst noch zeigen, ob sie wirklich einen Neuanfang macht.