Süddeutsche Zeitung

Grün-Schwarz in Baden-Württemberg:Der Triumph der Grünen ist auch ein Sieg der 68er

Viele einst grüne Forderungen sind heute Allgemeingut geworden. Kein Wunder, dass "68er" für etliche AfD-Aktivisten ein fast so schlimmes Feindbild sind wie kriminelle Muslime.

Von Kurt Kister

Baden-Württemberg wird alsbald von einer grün-schwarzen Landesregierung geführt. Eine Sensation ist das nicht mehr, denn es gab schon Grün-Rot im Südwesten; man hat sich also an die Grünen als stärkste Partei und vor allem an ihren erdnahen Ministerpräsidenten Kretschmann gewöhnt. Dass die CDU nun in diese Koalition dürfen muss, ist in erster Linie dem Absturz der SPD geschuldet, in zweiter Linie dem Aufstieg der AfD. Obwohl also keine Sensation, ist die neue Regierung in Stuttgart dennoch sowohl Vorbote als auch späte Bestätigung einer zeithistorischen Entwicklung.

Die Grünen haben einen langen Weg beschritten, der sie von der Dagegen-Partei der späten Siebzigerjahre über den natürlichen Koalitionspartner der SPD bis hin zur kleinen Volkspartei mit nahezu allen Koalitionsoptionen geführt hat. Dazu hat entscheidend beigetragen, dass viele der politischen Forderungen der Grünen längst Allgemeingut geworden sind. Atomausstieg oder Ehen für Homosexuelle galten noch vor 30 Jahren als für die politische und gesellschaftliche Mehrheit kaum vermittelbar. Heute ist das anders.

Was die AfD für linke Symbole hält, findet sie ganz schrecklich

Ein Wahlerfolg wie der Kretschmanns im Südwesten hat mit dessen Persönlichkeit, aber auch mit anderen Spezifika zu tun. Wenn allerdings nicht eine gewisse Grundübereinstimmung mit einst eher exklusiv grünem Gedankengut landesweit vorhanden wäre, hätten die Grünen nicht stärkste Partei werden können. Gewiss sind die Grünen 2016 etwas anderes als die von 1980. Aber mehr noch als die Grünen haben sich die Gesellschaft und mit ihr auch Parteien wie CDU und CSU verändert. Angela Merkel war dabei eine Katalysatorin des Wandels, aber sie hat ihn weder angestoßen noch gesteuert.

Grün-Schwarz in Baden-Württemberg also mag, ähnlich wie als Schwarz-Grün in Hessen, ein Vorbote für Konstellationen im Bund 2017 oder 2021 sein. Im Bund wird die Union wohl auf absehbare Zeit stärkste Kraft bleiben; hinter ihr werden sich SPD, Grüne, Linke, FDP und AfD im Bereich zwischen fünf und etwa 20 Prozent drängeln. Auch wenn die AfD aus den verschiedensten Gründen koalitionsunfähig bleiben wird, bedeuten diese Aussichten, dass auch im Bund Allianzen geschlossen werden müssen, die man bisher nicht kannte.

Jenseits solcher Überlegungen bedeutet Grün-Schwarz aber auch: Jene politische und gesellschaftliche Bewegung, deren Ursprung bei den sogenannten 68ern lag, hat die Republik sehr verändert. Die erste rot-grüne Bundesregierung 1998 galt zu Recht auch als die Institutionalisierung des Marsches durch die Institutionen. Gerhard Schröders Kabinett war eine Mischung aus Leuten, die vor Jahrzehnten mal von der Revolution geträumt hatten, sowie solchen, die nur mittlere Reformen wollten - und außerdem gerne ein Häuschen in der Toskana.

Wenn politische Umstände mit Seuchen verglichen werden

Die 68er haben die Republik verändert - und dann hat die Republik die 68er verändert. Dass auch Winfried Kretschmann mal ein Kommunist war, hat angesichts seiner politischen Persönlichkeit fast nur noch folkloristischen Charakter. Dass in seinem zweiten Kabinett nun Grüne und Schwarze sitzen, und das in dem nicht unspießigen Südwesten, ist ein Beweis dafür, dass es heute nicht mehr um unvereinbare Lebensentwürfe und kollidierende Ideologien geht. Allerdings trauern dieser Zeit manche unreformierte Linke und immer mehr neue Rechte hinterher.

Apropos Rechte: Die AfD hat am Wochenende beim Parteitag gezeigt, wie sehr sie am liebsten die 68er-Geschichte ungeschehen machen würde. Offenbar sind "die 68er" für etliche AfD-Aktivisten ein fast so schlimmes Feindbild wie kriminelle Muslime. Der Südwest-AfD-Landeschef Meuthen, angeblich ein moderater Akademiker, bediente sich zur Umschreibung seiner 68er-Phobie Wörtern wie "verseucht" und "versifft" (letzteres kommt von Syphilis). Zwar ist das die nicht nur unter Rechten weit verbreitete Pöbel-Sprache. Aber die Beschreibung politischer Umstände durch Begriffe aus dem Seuchenwesen zeigt, wie tief die Verletzungen sind und wie ausgeprägt die Neigung ist, andere zu verletzen.

Nun ist die AfD eine Partei, die gerne gegen Symbole wütet - ihr angestrebtes Minarett-Verbot ist ein Beispiel dafür. (Übrigens ist es gut 80 Jahre her, dass in Deutschland schon mal de facto der Bau bestimmter religiös konnotierter Gebäude verboten wurde.) Auch wenn die 68er - die Menschen, die Reformen, die Irrwege - nicht konkret zu fassen sind, eignen sie sich doch gut als Symbolkonglomerat. Und gegen so etwas - "die 68er sind schuld am Staats- und Moralverfall" - lässt sich gut polemisieren. Allerdings gehören wiederkehrende Debatten über die 68er auch zum geistigen Haushalt der Republik. Jetzt macht's halt die AfD.

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SZ vom 03.05.2016/pamu
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