Süddeutsche Zeitung

Parlamentswahlen in Polen:Ein Land, zwei Welten

Die einen treiben den Fortschritt voran, die anderen besuchen weiter fromm die Sonntagsmesse: West- und Ostpolen sind zwei Welten - und so wird dort auch gewählt. Ein Besuch in den Städten Lubin und Lublin, wo Menschen leben, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten.

Thomas Urban, Warschau

"Das beste an Lubin ist die Nähe zur Autobahn", scherzen die beiden Abiturienten Adam und Marek. "In zweieinhalb Stunden ist man in Berlin." Das knapp 75 000 Einwohner zählende Lubin ist eine Industriestadt, hier befindet sich die größte polnische Kupfermine. Die Autobahn durch die Oderniederung in das 300 Kilometer entfernte Berlin ist die wichtigste Verkehrsader Polens, sie verbindet das weiter im Süden gelegene oberschlesische Industriegebiet um Kattowitz und Gleiwitz mit Deutschland. Täglich fahren tausende von Lastzügen in beide Richtungen.

Lubin boomt. Das Rathaus mit seinem Turm ist frisch renoviert, das gilt auch für die Häuser in der Innenstadt, die noch aus der deutschen Zeit stammen. Das Kraftwerk hat eine moderne Filteranlage bekommen. Die Stadtverwaltung bemüht sich, Produzenten regenerativer Energiesysteme anzusiedeln. "Wir wollen Öko-Avantgarde werden", heißt es in einer Werbebroschüre. Die Bedingungen hier sind ideal: Die Arbeitslöhne sind noch immer um zwei Drittel niedriger als bei den deutschen Nachbarn, zur Grenze dauert es aber nur eine Stunde.

Lubin hat auch nicht nur eine, sondern gleich drei deutsche Partnerstädte: Bad Ems, Böblingen und Hof. Adam und Marek waren schon in allen drei Städten. Umgekehrt kommen auch Heimatvertriebene und ihre Nachkommen hierher. Einige Gemeinden in der Umgebung haben schon zu Treffen mit den ehemaligen deutschen Einwohnern eingeladen.

"Nein, vor den Deutschen haben wir keine Angst", sagt Marek zu den Warnungen des polnischen Oppositionsführers Jaroslaw Kaczynski. Der meint, die Bundesregierung fördere gezielt die Ansiedlung deutscher Betriebe in den ehemaligen Ostgebieten, um diese dann dereinst wieder an Deutschland anzuschließen. Niederschlesien stand vielmehr bei den letzten Wahlen geschlossen hinter dem deutschfreundlichen Premier Donald Tusk, der an der Spitze der proeuropäischen und konservativen Bürgerplattform (PO) steht.

Genau 500 Kilometer östlich von Lubin liegt die Großstadt Lublin. Doch der Unterschied zwischen beiden Städten macht viel mehr aus als der Buchstabe L in der Wortmitte. Mit 350 000 Einwohnern ist die Stadt fast fünfmal so groß wie Lubin. Hier gibt es aber keine rauchenden Industrieschlote, dafür ein Dutzend Kirchen und Klöster in der prachtvollen Altstadt sowie die Katholische Universität Lublin, an der auch Karol Wojtyla gelehrt hat, bevor er Erzbischof von Krakau und später Papst in Rom wurde. Johannes Paul II. ist hier allgegenwärtig - als Skulptur, als vergilbtes Kalenderblatt in der Eckkneipe, als Plakette im Taxi. Das Lubliner Land ist die Hochburg des nationalpatriotischen Lagers, hier kann sich Jaroslaw Kaczynski seines Sieges sicher ein.

"Er kämpft um unsere Ehre"

Auch die beiden Studentinnen Dorota und Ewa werden für die von Kaczynski geführte Oppositionspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) stimmen. Von Tusk sind sie restlos enttäuscht. "Er hat nur Reformen versprochen, aber er tut nichts", sagen sie. Und dann gab es diese PO-Affären. So berichtete die Presse ausführlich über Absprachen zwischen führenden PO-Abgeordneten und Vertretern der Glücksspielbranche über ein neues Spielautomatengesetz. Tusk hat diese Abgeordneten zwar ihrer Ämter enthoben, doch das Etikett, die Partei der Trickser und Strippenzieher zu sein, ist an der PO haften geblieben.

Auch ereifern sich die beiden Studentinnen darüber, dass Tusk seine politischen Gegner gern rüpelhaft attackiert. "Jaroslaw Kaczynski kommt nie ein beleidigendes Wort über die Lippen", sagen sie. Der Mann sei grundehrlich. In der Tat gesteht auch die liberale Presse Kaczynski zu, persönlich integer zu sein, so wie dies auch für seinen Zwillingsbruder Lech galt, den 2010 tödlich verunglückten Staatspräsidenten. Noch ein weiteres Argument führen Dorota und Ewa an: "Jaroslaw Kaczynski kämpft auch um unsere Ehre und das nationale Gedächtnis."

Die jungen Frauen berichten von ihrer letzten Klassenfahrt in der Oberstufe, sie führte erst zur nahe gelegenen Gedenkstätte Majdanek, dann ins Museum des Warschauer Aufstandes. Diese lässt die Besucher multimedial die Verbrechen der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg nacherleben.

Dagegen führt der Klassenausflug der Gymnasiasten aus Lubin in die Odermetropole Breslau. Sie besuchen dort das berühmte gotische Rathaus. In der Eingangshalle befindet sich die "Galerie der großen Breslauer", zwei Drittel von ihnen sind Deutsche, darunter sechs Nobelpreisträger.

Auch die Peripherie Breslaus ist geprägt von Großmärkten, Einkaufszentren und Fabriken - die Stadt ist der größte Produzent Europas für Haushaltsgeräte. Deutsche Kühlschränke, Waschmaschinen und Mikrowellen werden hier zusammengeschraubt, Koreaner und Japaner lassen hier Flachbildschirme und Spielkonsolen bauen. In Breslau selbst sind neue Büroviertel entstanden. In der Altstadt mit ihren Patrizierhäusern und an den Oderpromenaden lassen unzählige Straßencafés auch im Herbst ein südländisches Flair entstehen.

Adam und Marek sind hier auch schon mit Freunden aus Berlin gewesen, in der Berliner Szene ist Breslau längst kein Geheimtipp mehr. Dagegen sind die Lubliner Studentinnen nach Warschau, das nur 170 Kilometer entfernt ist, mit dem Zug bis zu drei Stunden unterwegs. Eine Autobahn gibt es in ganz Ostpolen nicht. An den alten Autos und Traktoren auf der Straße sieht man, dass die Dorfbevölkerung arm ist. Es sind diese Landkreise um Lublin, wo auch die katholische Kirche noch eine Bastion ist; 80 bis 90 Prozent der Menschen besuchen die Sonntagsmesse.

"In Lubin treiben wir am Sonntag Sport oder gehen ins Stadion", erzählt der Oberschüler Adam. Die Stadt hat einen vom Kupferkonzern KGHM gesponserten Fußballverein in der höchsten Liga. An keinem anderen Ort in Polen gibt es so viele Sportstätten pro Einwohner, Schwimmbäder, Hallen, Bolzplätze, Trimmpfade. Das bereitet der katholischen Kirche Sorge. Denn hier bleiben immer mehr Gottesdienstbesucher weg.

So stehen Lubin und Lublin für die Zweiteilung Polens, die wirtschaftliche wie politische und mentale. Der Westen und Norden wählt proeuropäische Kandidaten, die auf eine enge Zusammenarbeit mit den Deutschen große Wert legen. Das schafft ein günstiges Klima auch für deutsche Investoren, ganz abgesehen von der Nähe zu den deutschen Märkten.

Die "Ostwand" aber, die an Litauen, Weißrussland und die Ukraine grenzenden Woiwodschaften, sind bislang vom großen Wirtschaftsboom abgeschnitten. Und im Alltag gibt es hier kaum Kontakte mit den deutschen Nachbarn. Hier ist im Kollektivgedächtnis der Deutsche noch der grausame Besatzer. Die Umfragen sprechen dafür, dass auch die Wahlen diese Zweiteilung bestätigen.

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Quelle:
SZ vom 08.10.2011/infu
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