Parlamentswahlen:Schweizer Pendel

Parlamentswahl in der Schweiz

Regula Rytz, Parteichefin der Grünen, tritt bei den Bundesratswahlen am 11. Dezember an. Im Oktober konnte ihre Partei bei der Parlamentswahl deutlich zulegen.

(Foto: Anthony Anex/dpa)

Mit dem Erfolg der Grünen wird die rechte SVP gestutzt. Das Ergebnis wirkt wie eine Reaktion auf den Rechtsruck von 2015.

Von Isabel Pfaff, Bern

Regula Rytz ist alles andere als eine typische Wahlgewinnerin. Die Präsidentin der Schweizer Grünen zählt zu den am weitesten links stehenden Politikern der Schweiz; sie will die Gestaltung der Gesellschaft nicht dem Markt überlassen, und sie setzt sich für die Gleichstellung der Geschlechter ein. In einem konservativ geprägten Land wie der Schweiz, in der sich der Staat aus vielen Bereichen heraushält und der Wirtschaft so wenig Grenzen wie möglich setzt, sind das schwierige Voraussetzungen für politischen Erfolg.

Doch nach einem denkwürdigen Wahlwochenende ist Rytz nun die strahlende Siegerin. Ihre grüne Partei hat mehr als sechs Prozentpunkte hinzugewonnen und wird viertstärkste Kraft im neuen Parlament - das macht 17 Sitze mehr im Nationalrat, ein Plus, wie es seit der Einführung des Proporzwahlrechts vor 100 Jahren noch nie vorgekommen ist. Zwar legten auch die Grünliberalen, die in vielen Bereichen eher einen Mitte-Kurs verfolgen, deutlich zu. Doch die eindeutigen Gewinner sind die linken Grünen, also die wohl unschweizerischste Partei, die das politische Spektrum derzeit zu bieten hat.

Wie konnte es dazu kommen, nur vier Jahre nach dem historischen Erfolg der rechten SVP, die damals fast 30 Prozent der Wähler von sich überzeugen konnte? Zunächst eine Relativierung: Die SVP bleibt mit gut 25 Prozent Zustimmung auch im neuen Parlament stärkste Kraft, vor den Sozialdemokraten und der liberalen FDP. Doch die Verluste der Rechten und die Gewinne der Grünen sind in einem traditionell eher stabilen Parteiensystem wie dem eidgenössischen doch bemerkenswert. In der Schweiz gibt es das Wechselspiel aus Regierung und Opposition nicht, das etwa deutschen Parteien oft enorme Verschiebungen am Wahltag beschert. In Bern herrscht Konkordanz, das heißt, in der siebenköpfigen Regierung, dem Bundesrat, sitzen immer die vier wichtigsten Parteien und suchen nach mehrheitsfähigen Lösungen. Schweizer Parteien können sich daher nur schwer entzaubern.

In gewisser Weise ist aber genau das der SVP passiert. Das aktuelle Wahlergebnis wirkt wie eine Reaktion auf den Rechtsruck von 2015, wie ein Versuch der Schweizer Gesellschaft, das Pendel wieder ein Stück nach links ausschlagen zu lassen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Die Klimabewegung und ihr europaweites Erstarken hat auch die Schweiz erreicht. Im Laufe des Wahljahres hat sich deshalb eine einzigartige Gelegenheit für die grünen und linken Kräfte im Land eröffnet - und sie haben sie, zweitens, deutlich genutzt.

Besonders entlang zweier Themen konnten die Parteien die Bürger mobilisieren

Auf beeindruckende Weise gelang es Parteien, Gewerkschaften und linken zivilgesellschaftliche Gruppen, die Bürger im Land entlang zweier Themen zu mobilisieren: für mehr Klimaschutz und für die Gleichstellung der Geschlechter. Beides sind Gebiete, auf denen die Schweiz bisher nicht als Vorreiterin aufgefallen ist. Und die Aktivisten haben es geschafft, aus diesem Rückstand politisches Kapital zu schlagen. Die Klimademonstrationen, die Initiative "Helvetia ruft" für mehr Frauen im Parlament oder der schweizweite Frauenstreik: Es ist beachtlich, was sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene im vergangenen Jahr in der Schweiz bewegt hat.

Diese Mobilisierung hat offenkundig gewirkt. Eine Nachwahlbefragung des Tamedia-Verlags ergab, dass die grünen Parteien insbesondere bei Jüngeren und bei Frauen punkten konnten. Vor allem aber gelang es ihnen, viele Nichtwähler an die Urne zu bewegen. Die grünen Hochburgen befinden sich im traditionell linken Jurabogen, also zwischen Basel und Genf, im italienischsprachigen Tessin sowie in den Städten Zürich, Bern und Luzern.

Die regionale Verteilung zeigt aber auch, dass der grüne Erfolg in Teilen auf Kosten der sozialdemokratischen SP geht - eine Überraschung, da die SP einen ganz ähnlichen Kurs wie die grüne Partei verfolgt. Trotzdem hat sie nach der SVP am meisten Stimmen verloren: Mit 16,8 Prozent Wähleranteil fuhr sie am Sonntag ihr schlechtestes Ergebnis seit 1919 ein. Die Verliererin SVP schließlich, so die Autoren der Tamedia-Studie, hat es diesmal nicht geschafft, ihre Klientel so stark zu mobilisieren wie 2015. Sie hat vor allem in den Städten und in Gemeinden mit niedrigem Altersschnitt verloren - das exakte Spiegelbild zum grünen Publikum.

Nun hat das Land also ein grüneres, weiblicheres und auch jüngeres Parlament. Die Frauenquote im Nationalrat ist von 32 auf 42 Prozent gestiegen, auch im noch nicht endgültig gewählten Ständerat zeichnet sich ein Anstieg der Quote ab. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten ist von 50,3 auf 49 Jahre gesunken.

Diese neue politische und demografische Zusammensetzung dürfte einiges verschieben. Besonders in der Klima- und Umweltpolitik werden die Kräfteverhältnisse eine Wende bewirken, aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht ist eine Liberalisierung zu erwarten. Denkbar sind etwa eine Öffnung der Ehe für alle oder sogar eine Elternzeit, die über die bisherigen 14 Wochen für Mütter und zwei Wochen für Väter hinausgeht.

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