Parlamentswahl in der Ukraine:Der Traum von Veränderung

Parlamentswahl in der Ukraine: Jungpolitiker wie Roman Fedinjak werben für die "Diener des Volkes". Sie haben zwar keine Erfahrung - aber auch keinen politischen Ballast.

Jungpolitiker wie Roman Fedinjak werben für die "Diener des Volkes". Sie haben zwar keine Erfahrung - aber auch keinen politischen Ballast.

(Foto: Florian Hassel)
  • Von der Palamentswahl an diesem Sonntag erhoffen sich viele Menschen in der Ukraine einen politischen Aufbruch.
  • Wegen des Stillstandes und der Korruptionsfälle misstrauen die meisten Ukrainer ihrem Abgeordnetenhaus.
  • Der im April neu gewählte Präsident Wolodimir Selenskij will sich nun mit seiner Partei eine Mehrheit im Parlament sichern.

Von Florian Hassel, Lemberg

Wer im Nabereschnij-Viertel den falschen Abzweig nimmt, steht unversehens im Niemandsland. Eine Lehmstraße mit wassergefüllten Schlaglöchern, Abfall am Straßenrand, scheinbar herrenlosen Rohbauten und Baukräne am Horizont. Das Neubauviertel im Franko-Stadtteil ist sieben Kilometer und gleichzeitig Lichtjahre entfernt vom Charme der historischen Altstadt von Lemberg, der wichtigsten Stadt im Westen der Ukraine.

Wer den richtigen Abzweig nimmt, landet in der Iwan-Puljuja-Straße 40. Dort wird die optische Wucht mehrerer zwölfgeschossiger Hochhäuser durch viel Glas, rote Klinkerelemente und einen über neun Stockwerke aufgemalten, traurig dreinschauenden Löwen auf der Stirnseite eines Hochhauses aufgebrochen. Dem Löwen gegenüber haben sich einige Dutzend Lemberger auf dem Kinderspielplatz versammelt, die ihrem Nachwuchs Gelegenheit zum Toben geben oder hören wollen, was ihnen Roman Fedinjak zu sagen hat.

Die meisten Ukrainer misstrauen ihrem Parlament angesichts des politischen Stillstandes

Fedinjak ist Parlamentskandidat der "Diener des Volkes", der Partei Wolodimir Selenskijs. Der neue ukrainische Präsident will bei der Parlamentswahl am kommenden Sonntag (21. Juli) seinen politischen Siegeszug fortsetzen und sich im Parlament mit seiner Partei eine Mehrheit sichern, die ihm bequemes Regieren ermöglicht. Eine Hälfte des Parlaments wird über Parteilisten mit prominenten Spitzenkandidaten besetzt, die andere Hälfte über Wahlkreiskandidaten wie Fedinjak: 23 Jahre jung, ehrgeizig, doch ohne politische Erfahrung - oder vielmehr: politischen Ballast - im Kiewer Parlament. Denn die meisten Ukrainer misstrauen ihrem Parlament angesichts politischen Stillstandes und etlicher korrumpierter Abgeordneter.

Die "Diener des Volkes" aber wollen, so sagen sie, alles anders machen. Fedinjak steht trotz des untypisch kühlen Juliabends nur im rot gestreiften T-Shirt vor seinen Zuhörern und redet mit einem tragbaren Lautsprecher gegen die Abendbrise an. Fedinjak ist in Lemberg nicht unbekannt: Schon mit 17 führte er als Student im Winter 2013/2014 den Protest gegen die Abkehr des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch von Europa mit an.

Allein in Lemberg protestierten Tausende Studenten am Denkmal des Nationaldichters Taras Schewtschenko. Über Monate pendelten Fedinjak und seine Mitstreiter zwischen Lemberg und dem Protest auf dem Kiewer Maidan. Nach der Flucht von Janukowitsch und der Wahl von Petro Poroschenko zum Präsidenten schloss Fedinjak sein Studium ab, arbeitete in der Regionalverwaltung als Auditor in einer Gesellschaft, die Bauprojekte prüft. Solche wie das Nabereschnij-Viertel.

Das Viertel, so Fedinjak, ist typisch für das vergleichsweise wohlhabende Lemberg, das Ukrainer aus der ärmeren Provinz ebenso anzieht wie Zehntausende Flüchtlinge aus dem Krieg in der Ostukraine. "Lwiw boomt und baut", sagt Fedinjak mit der ukrainischen Bezeichnung für Lemberg. "Doch die Infrastruktur hält nicht Schritt - auch nicht hier im Nabereschnij-Viertel, wo der Bauherr erst ohne die notwendigen Genehmigungen baute und die Baufirma später Bankrott ging. Jetzt haben die Leute niemanden mehr, an den sie sich wenden können."

Und so gibt es hinter den Hochhäusern nur eine Lehmstraße und eine Straße, die teilweise so eng gebaut wurde, dass die neuen Stadtbusse nicht mehr hindurchpassen. "Jetzt müssen Tausende Menschen weit bis zur nächsten Haltestelle laufen - alle Beschwerden und Eingaben haben nichts bewirkt", sagt die Anwohnerin Tatjana Sopowa. Parlamentskandidat Fedinjak verspricht, im Stadtrat nachzuhaken.

"So wie hier ist es vielerorts", sagt er. Erst werde gebaut, dann folge die Infrastruktur. "Oder der Stadtrat beschließt für Neubaugebiete zwar eine neue Straße, Schule oder einen Kindergarten. Doch unsere Gerichte sind korrupt: Und plötzlich erlaubt ein Urteil dem Bauherrn, anstelle der Schule ein weiteres Hochhaus zu bauen." Von fünf Neubauvierteln Lembergs seien vier mit solchen korrupten Elementen gebaut, sagt Fedinjak. Eine Diagnose, die so oder ähnlich wohl auch für den Rest der Ukraine gilt. Die "Diener des Volkes" würden im Parlament das Baurecht ändern, verspricht Fedinjak.

Jung und politisch unbelastet

Tatjana Sopowa gefällt Fedinjaks Auftritt. Vor fünf Jahren ist die 57-jährige Ärztin mit ihrem Mann Michail vor dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Lugansk nach Lemberg geflohen. "Erst wenn wir den Krieg beenden und die Korruption besiegen, wird es mit der Ukraine endlich aufwärts gehen", sagt Michail. Bei der Präsidentschaftswahl haben die Sopowas nicht für Selenskij gestimmt. Trotzdem hoffen sie auf einen "Wandel zum Besseren" und überlegen, seine Partei zu wählen. Dies wollen Umfragen zufolge 43 Prozent der Wähler tun. Die Zeitung Serkalo Nedeli sieht die Ukraine vor einem "Generationswechsel auf dem politischen Olymp": Über den Einzug entschieden nicht mehr über Jahre gesammeltes Wissen und Erfahrung im Parlament, sondern "Jugend, Courage und ob jemand politisch unbelastet ist."

Diese Kriterien treffen nicht nur auf Roman Fedinjak zu. Parteikollegin Katerina Schubka, 34 Jahre alte Parlamentskandidatin in einem benachbarten Wahlkreis, wuchs als Tochter eines Militärstaatsanwaltes auf. Und dennoch war Schubka geschockt, als sie nach ihrem Jurastudium die Realität ukrainischer Staatsanwaltschaften kennenlernte. "Im Studium hatte ich gelernt, dass Staatsanwälte die Gesetze einhalten und für Gerechtigkeit sorgen. In der Realität arbeiten die Staatsanwaltschaften wie zu sowjetischer Zeit: Staatsanwälte mischen sich ein, wo sie nichts verloren haben, sie werden gezielt gegen Einzelne eingesetzt, und es gilt das Prinzip von Quantität statt Qualität." Monatelang spürte Schubka einem Fall massiver Unterschlagung im Staatsapparat nach - nur um zu erleben, dass Vorgesetzte die Strafanklage in ein Zivilverfahren umwandelten.

Nach neun Jahren als Staatsanwältin gab Schubka desillusioniert auf und wurde Anwältin. Als sie Selenskijs Versprechen umfassenden Wandels hörte, war sie elektrisiert - und bewarb sich mit Erfolg als Parlamentskandidatin der "Diener des Volkes". Als Abgeordnete würde Newcomerin Schubka gern mit "für eine Justizreform sorgen, nach der es für Staatsanwälte endlich um Qualität geht und die Ukrainer Vertrauen in ihre Gerichte bekommen".

Freilich kämpfen die "Diener des Volkes" nicht als einzige mit einer Mischung aus Fachkenntnis und politischer Unerfahrenheit um die Wähler. Swiatoslaw Wakartschuk machte seinen Doktor in Physik und wurde Musiker. Als Sänger von Okean Elzy, der beliebtesten Rockband der Ukraine, ist der politisch engagierte Musiker so prominent, dass er Umfragen von 2018 zufolge sogar Präsident hätte werden können, wäre er angetreten.

Wakartschuk hat seiner Jungpartei "De-Oligarchisierung" als ein Hauptziel versprochen

Doch Wakartschuk überließ Selenskij das Feld. Nach dessen Wahl zum Präsidenten aber gründete Wakartschuk Mitte Mai die Partei "Stimme" (Golos). In Lemberg treten für Golos bisherige Mitglieder der regionalen Ukrainischen Galizischen Partei an. Die Juristin und Ökonomin Galina Wassiltschenko, 35 Jahre, kümmerte sich bisher um Reformkonzepte für Lembergs überalterte Busse und Straßenbahnen oder die Energieversorgung - jetzt will sie ins Parlament nach Kiew. Dutzende Treffen mit Wählern hat sie hinter sich. Zentrale Punkte, darunter Beitritt zur EU und Nato, effektive Justizreform und Kampf gegen die Korruption, gehören zum Standardrepertoire ukrainischer Reformer. Umfragen zufolge liegt Wassiltschenko in ihrem Wahlkreis gleichauf mit dem zum alteingesessenen politischen Establishment zählenden Mandatsinhaber Bohdan Dubnevyc, einem umstrittenen Multimillionär und im Kiewer Parlament bisher Gefolgsmann von Ex-Präsident Poroschenko.

Prognosen zufolge wird auch Golos ins neue Parlament gewählt - und ist dann wahrscheinlicher Koalitionspartner für die "Diener des Volkes". Denn die sich als unverbrauchte Reformer präsentierende Selenskij-Truppe würde es Anhängern kaum vermitteln können, mit einer der drei anderen im Parlament erwarteten alten Parteien zusammenzugehen: der Partei von Ex-Präsident Poroschenko, der von Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko oder gar dem von Moskau geförderten Oppositionsblock "Für das Leben".

Für Golos ist es nicht einfach, ihren Wählern eine Zusammenarbeit mit den Dienern des Volkes zu verkaufen. Schließlich hat Wakartschuk seiner Jungpartei "De-Oligarchisierung" als ein Hauptziel auf die Fahnen geschrieben, also das Aufbrechen übermächtiger Monopole einiger Milliardäre in Wirtschaft, Medien und in den Parlamenten. Doch Selelenskij verdankt seine Wahl auch dem hoch umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij: Dessen Fernsehsender 1 + 1 warb unermüdlich für Selenskij.

"Selenskij ist Kolomoiskijs Projekt", glaubt die 63-jährige Lehrerin Ludmilla Grinew und fragt Golos-Kandidatin Wassiltschenko bei einem ihrer Auftritte: "Was wollt ihr denn konkret tun, um den Einfluss der Oligarchen endlich zu brechen?" Wassiltschenkos Antwort findet sie "ausweichend". Trotzdem will sie am Sonntag für Golos stimmen. "Wenn wir mit Selenskijs Leuten zusammengehen, können wir im Parlament vielleicht das Schlimmste verhindern. Und wenn wir mit Golos alleine bleiben, gibt es im Parlament wenigstens eine echte Oppositionsstimme."

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