Die Schweiz, das war das Land, in dem alle zusammen regieren. In dem sich möglichst viele am Entscheidungsprozess beteiligen - und dann gemeinsam beschließen, dass sie nicht mehr Jahresurlaub haben wollen, sondern lieber noch etwas Geld zurücklegen. Für schlechte Zeiten. Ein Erfolgsmodell, Konkordanz genannt. Dass es in der Krise ist, weiß man schon länger. Krisen können überwunden werden, Krisen bringen Neues hervor. Danach sieht es derzeit in der Schweiz jedoch nicht aus. "Es gibt nur zwei Parteien - uns und die anderen", hat vor kurzem ein Politiker der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) verkündet. Deutlicher kann man die Konkordanz nicht aufkündigen.
Am Sonntag wird in der Schweiz ein neues Parlament gewählt. Es ist eine Richtungswahl, wie Links und Rechts betonen. Die schlechten Zeiten, auf die sich das Land seit jeher vorbereitet, stünden unmittelbar bevor - das will vor allem die SVP den Bürgern mit an die Urne geben.
Populäre Themen der Rechtspopulisten
Seit Monaten treibt die Partei im Wahlkampf sämtliche Parteien vor sich her, mit Themen, die auch andere Rechtspopulisten Europas im Repertoire haben: Das Land werde von Flüchtlingen überrannt, zudem kämen zu viele Einwanderer aus der EU, die Schweizern Arbeitsplätze streitig machten, Autobahnen und Züge verstopften. Kaum jemand traue sich, diese Themen anzusprechen, weil "die Linken und Netten" Denkverbote erlassen hätten. Überhaupt sei man als Schweizer längst fremdbestimmt, von Brüssel und Bern, wo Bürokraten säßen, die einfachen Leuten das Leben schwer machten.
Dies ist das Wahlprogramm für all jene, die sich vom Tempo der Globalisierung überrollt fühlen. Und das ausgerechnet in der Schweiz, wo niedrige Steuern und ein liberales Wirtschaftsrecht dafür sorgen, dass sich vor allem die Vorteile einer globalen Wirtschaft manifestieren.
Es ist überraschend genug, dass es der SVP als stärkster Partei im Schweizer Nationalrat gelingt, sich als Underdog zu inszenieren. Dass sie trotz größter Medienpräsenz als Stimme der schweigenden Mehrheit wahrgenommen wird, ist noch erstaunlicher. Tatsächlich scheint die SVP Erfolg zu haben. Alle Umfragen deuten auf einen Wahlsieg der Rechtspopulisten hin. Sie könnten fast dreißig Prozent der Stimmen holen und etwa zehn Prozent vor den Sozialdemokraten liegen.
Zweites SVP-Ministerium wird mit Wahlerfolg wahrscheinlicher
Damit dürfte sich wohl auch an der Zusammensetzung der Regierung, des Bundesrats, etwas ändern. Hier hat die SVP einen von sieben Sitzen inne - was der tatsächlichen Stärke der Partei schon lange nicht mehr angemessen ist. Ein zweites SVP-Ministerium wird mit einem Wahlerfolg wahrscheinlicher. Es würde der Partei mehr Verantwortung aufbürden und eine Rechtfertigung nehmen, sich als Opposition zu inszenieren. Gleichzeitig würde die Schweizer Regierung nach rechts rücken. Gemeinsam mit der wirtschaftsliberalen FDP könnte die SVP im Bundesrat eine Mehrheit rechts der Mitte bilden. Die Beziehungen zur EU dürften dann komplizierter werden.
Wie also muss man sich die Schweiz der Zukunft vorstellen? Wahlforscher sind sich einig: Der Trend geht zur politischen Polarisierung. Links und Rechts, Stadt und Land, Internationalisierung und Abschottung prallen immer schärfer aufeinander. Das Verständnis füreinander wird kleiner. Das wird auch an der Debatte deutlich, die jüngst der Schrifsteller Lukas Bärfuss mit einem Text in der FAZ ausgelöst hat. "Die Schweiz ist des Wahnsinns", stellte Bärfuss dort plakativ fest. Er ließ kaum ein gutes Haar an Politik und Kultur seiner Heimat, die er als "Land von Zwergen" bezeichnete, das auf "dem falschen, rechten Weg" sei. Ein Kommentator des links-liberalen Tages-Anzeigers, den Bärfuss in seinem Text ebenfalls hart angegangen war, reagierte mit Unverständnis.
Nichts deutet darauf hin, dass die SVP in Zukunft gemäßigter auftreten wird. 2011 hatte ihr Fraktionschef noch Kompromissbereitschaft beteuert, inzwischen spricht er von "roten Linien", die man nicht überschreiten dürfe. Diese Linien prägen das Land: Das Schweizer Fernsehen kippte kurz vor der Wahl einen Beitrag, in dem ein europafreundlicher Schriftsteller auftreten sollte. Einige Christdemokraten schlugen Anfang August eine unentgeltliche "Arbeitspflicht" für Asylbewerber vor. Und die Initiative "Schweizer Recht statt fremde Richter", die zu einem Austritt des Landes aus der Europäischen Menschenrechtskonvention führen könnte, hat längst die 100 000 notwendigen Unterschriften zusammen.
Schweizer sind es gewohnt, Sachfragen einzeln zu betrachten
Das ist beunruhigend. Dass die Schweiz tatsächlich auf schlechte Zeiten zusteuert, ist jedoch nicht zwingend. Der jetzige Bundesrat erhält, trotz der Kampagnen der SVP, höchste Popularitätswerte. Und: Die Schweizer sind es gewohnt, Sachfragen einzeln zu betrachten und darüber abzustimmen - auch deshalb liegt die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen oft unter 50 Prozent. Mit Volksinitiativen könnte auch ein rechtskonservativer Bundesrat in die Schranken gewiesen werden. Theoretisch zumindest.
In der Praxis ist die Schweiz längst zum Vorbild der europäischen Rechtspopulisten geworden. Von gemeinsamer Entscheidungsfindung ist dabei keine Rede.