Süddeutsche Zeitung

Parlamentswahl in Algerien:Wahlen ohne Zukunftsvision

  • Wirtschaftskrise und veraltete politische Strukturen überschatten Algeriens einst glänzenden Zukunftsvisionen.
  • Bei der Parlamentswahl am Donnerstag wird die Partei des Präsidenten Bouteflika ziemlich sicher stärkste Kraft werden.
  • Die Wahlbeteiligung wird sehr niedrig sein, die Bürger sind frustriert.

Von Moritz Baumstieger

Die Pläne, die Algerien vor über zehn Jahren präsentierte, waren gigantisch: Am Boughezoul-Stausee 170 Kilometer südlich von Algier sollte eine Retortenstadt aus dem Boden gestampft werden, effizient, glitzernd, futuristisch.

Ein modernes Heim für 400 000 Menschen sollte Boughezoul werden und zugleich die neue Hauptstadt des Landes, ein Utopia des Maghreb, eine Art Brasília im Übergangsland zur Wüste. Im Frühjahr 2017 ist davon recht wenig zu sehen. Teile der Verkehrswege und ein paar Wohnblöcke wurden fertiggestellt, glitzern aber tut nichts.

An den Stellen, wo überhaupt mit dem Bau begonnen wurde, drehen sich die Baukräne heute sinnlos im Wind. Als die Rohstoffpreise im Jahr 2014 einbrachen, hat die Regierung die Arbeiten hier wie an vielen anderen Großprojekten aufs Minimalste hinuntergefahren.

Algerien benötigt eine Erneuerung des politisches Systems

Als Zukunftsvision im Pausenmodus taugt die verhinderte Hauptstadt Algeriens durchaus als Metapher für die Situation in dem 40-Millionen-Land, das an diesem Donnerstag ein neues Parlament wählt. Solange die Rohstoffpreise immer neue Höhen erreichten, waren auch die Pläne hochfliegend.

Inzwischen aber kann die Regierung ihre Versprechen auf eine bessere Zukunft kaum mehr einlösen: 60 Prozent der Staatseinnahmen speisen sich aus dem Geschäft mit Öl und Gas. Weil das lahmt, wurde der Haushalt 2017 von 110 auf 63 Milliarden Euro fast halbiert.

Die daraus resultierenden Probleme - steigende Preise, steigende Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Menschen, steigende Armut - machen einen Umbau des Wirtschaftsmodells dringender denn je, doch für Strukturreformen fehlt das Geld. Und obwohl auch das verkrustete politische System eine Erneuerung bräuchte, wird die aktuelle Parlamentswahl aller Voraussicht nach zu keinerlei Veränderungen führen.

Die Regierenden verzweifeln an der großen Wahlmüdigkeit

Wie gering die Hoffnung der Algerier auf Wandel ist, lässt sich etwa an den fast verzweifelten Appellen ablesen, mit denen die Regierenden die 23 Millionen Wahlberechtigten an die Urnen treiben wollen: Wer die Wahl boykottiere, sei unehrlich, meinte der Präfekt von Algier, ein Stellvertreter von ihm hatte gar das Wort "Ungläubige" für Nichtwähler parat, der Kommunikationsminister verbot jegliche Berichterstattung über jene, die ankündigen, der Wahl fernbleiben zu wollen.

Bei der letzten Parlamentswahl vor fünf Jahren gaben gerade mal 43 Prozent ihre Stimme ab, nun könnten es laut algerischen Medien noch weniger werden: Viele Wähler interessieren sich demnach mehr für das Duell zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen in der einstigen Kolonialmacht Frankreich als für die Abstimmung zu Hause.

Die Wahlmüdigkeit der Algerier liegt zum einen daran, dass die Möglichkeiten des Parlaments sehr beschränkt sind, zu einer besseren Zukunft des Landes beizutragen. "Bei der Wahl in Frankreich steht alles auf dem Spiel, während es bei der in Algerien um rein gar nichts geht", meint etwa der Soziologe Nacer Djabi aus Algier.

Seit einer Verfassungsreform, mit der der greise Präsident Abdelaziz Bouteflika 2016 mit fünf Jahren Verspätung auf den Arabischen Frühling reagierte, wird die Kammer zwar zumindest bei der Berufung eines neuen Premiers gehört. Verhindern kann sie den vom Präsidenten ausgesuchten Kandidaten aber nicht.

Die Bedeutung der Wahlen und einer hohen Beteiligung werde von algerischen Politikern übertrieben betont, meint Djabi. "Wahlen dienen nur dazu, dem System eine fragile Legitimität zu verleihen, zumindest für ausländische Betrachter." Bedingungen für einen echten politischen Dialog habe aber auch die neue Verfassung nicht geschaffen.

Ziemlich wahrscheinlich wird die Partei des Präsidenten stärkste Kraft

Und so konzentriert sich die Macht weiterhin in den Händen des Präsidenten - beziehungsweise bei jenen, die seine Hände heute führen: Der 2014 wiedergewählte Bouteflika sitzt nach mehreren Schlaganfällen im Rollstuhl. Seit er im Februar ein Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel krankheitsbedingt absagte, tauchte er nur ein weiteres Mal im Staatsfernsehen auf - zu schwach, um eine Kladde mit Papieren zu halten.

Kaum motivierend für viele Algerier dürfte zudem sein, dass das Ergebnis relativ absehbar ist, wenn sie nun die 462 künftigen Parlamentarier aus den mehr als 12 000 Kandidaten auswählen: Bouteflikas seit 1962 regierende Nationale Befreiungsfront wird mit ziemlicher Sicherheit wieder stärkste Kraft.

Die spannendste Frage ist, ob sie nur mit der liberalen Nationalen Demokratischen Sammlung koaliert oder eine dritte, moderat islamistische Kraft einbindet. So ließe sich vielleicht eines der beiden islamistischen Wahlbündnisse spalten, die sich in diesem Jahr gebildet haben.

Die wirkliche Entscheidung über die Zukunft des Landes aber ist vertagt, wie der Bau der neuen Hauptstadt. Sie wird erst fallen, wenn Bouteflika stirbt - oder wenn die Not der Bevölkerung größer wird als die abschreckende Wirkung, die der Bürgerkrieg in den Neunzigerjahren und die entmutigenden Beispiele der Nachbarländer nach dem Arabischen Frühling entfaltet haben.

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SZ vom 04.05.2017/oko
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