Parlament in Ägypten aufgelöst:Verzweifelter Kampf gegen das Chaos

Zurück auf Los: Ägyptens Verfassungsgericht hat das Parlament aufgelöst, weil die Vergabe der Sitze verfassungswidrig war. Zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl scheint die Demokratie in Kairo wie erstarrt zu sein - gleichzeitig regen sich neue Proteste.

Sonja Zekri, Kairo

Zwei Tage vor der Stichwahl um das höchste Staatsamt hat das Verfassungsgericht in Ägypten am Donnerstag entschieden, dass das Parlament aufgelöst werden muss. In einer mit Spannung erwarteten Entscheidung urteilten die Richter, dass ein Drittel der Sitze ungültig sind.

Parlament in Ägypten aufgelöst: Nach den beiden Urteilen kam es vor dem Verfassungsgericht zu Zusammenstößen von Protestierenden mit den Sicherheitskräften.

Nach den beiden Urteilen kam es vor dem Verfassungsgericht zu Zusammenstößen von Protestierenden mit den Sicherheitskräften.

(Foto: AFP)

Nach den Worten des Gerichtspräsidenten Faruk Sultan gegenüber Agenturen bedeutet dies, dass zumindest das Unterhaus neu gewählt werden muss. Damit steht aber möglicherweise auch die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung zur Disposition.

Bei Parlamentswahlen hatten Islamisten etwa 70 Prozent der Sitze in der Volksvertretung gewonnen. In einem zweiten Urteil entschied das Gericht, dass Ex-Premier Ahmed Schafik bei der Präsidentenstichwahl am Wochenende gegen den Kandidaten der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, antreten darf.

Begleitet von Protesten und Staus hatte das oberste Gericht entschieden, dass einige Artikel des Wahlgesetzes für die mehrmonatige Parlamentswahl verfassungswidrig waren. Die Direktkandidaten, denen ein Drittel der Sitze zustehen soll, seien nicht verfassungsgemäß gewählt. Bereits eine frühere Instanz hatte festgestellt, dass einige Gruppierungen ihre Kandidaten nicht nur in den für Parteien vorgesehenen Listen aufgestellt hatten, sondern auch in den Listen für unabhängige Kandidaten. Nach dem Zusammentritt des Parlaments hatten sich viele dieser vermeintlich unabhängigen Abgeordneten anderen Fraktionen, vor allem den Islamisten, angeschlossen.

Kritiker hatten stets beanstandet, dass so nur 31 wirklich unabhängige Parlamentarier in die Volksvertretung eingezogen waren. Damit sei das Prinzip der Gleichheit verletzt, urteilte nun auch das Verfassungsgericht. Die Zusammensetzung der gesamten unteren Kammer sei ungesetzlich und juristisch nicht belastbar, so die Erklärung. Der Schura-Rat, das Oberhaus, wurde zwar nach denselben Gesetzen gewählt, wird aber nach den Worten Sultans nicht aufgelöst.

Zugleich entschied das Gericht, dass Ahmed Schafik, Luftwaffenkommandeur, Luftfahrtminister und der letzte Premier von Präsident Hosni Mubarak, zur Stichwahl am Wochenende antreten darf. Das Parlament hatte zuvor ein Gesetz gegen die politische Betätigung von Funktionsträgern des alten Regimes angenommen, die oberste Wahlkommission hatte es aber für nicht zuständig erklärt. Nun entschied das Gericht: Schafik darf kandidieren, das Gesetz verstoße gegen die Verfassung. Nach den beiden Urteilen kam es vor dem Verfassungsgericht zu Zusammenstößen von Protestierenden mit den Sicherheitskräften.

Herber Rückschlag für die Muslimbrüder

Ägyptische Juristen gehen davon aus, dass nun auch die Verfassungsgebende Versammlung aufgelöst werden wird. Diese war gerade erst wieder zusammengetreten, nachdem ein erster Versuch an einem Boykott liberaler, christlicher und muslimischer Würdenträger gescheitert war. Sie hatten den Islamisten, vor allem den Muslimbrüdern vorgeworfen, dass sie das Gremium dominieren wollen, um Ägypten eine stärker islamisch geprägte Verfassung aufzuzwingen.

Parlament in Ägypten löst sich auf

Ägyptische Juristen gehen davon aus, dass nun auch die Verfassungsgebende Versammlung aufgelöst werden wird. Monatelang hatten die Wahlen angedauert.

(Foto: REUTERS)

Der regierende Militärrat hatte vor einigen Tagen die politischen Parteien mit einem Ultimatum gezwungen, eine Neubesetzung auszuarbeiten. Diese sah zwar einen geringeren Anteil an Parlamentariern - und damit Islamisten - vor, aber erneut warfen die Liberalen den Islamisten vor, die Mehrheit über Tricks an sich zu ziehen. Nach Ansicht ägyptischer Juristen hat das Gremium, das zur Hälfte aus Abgeordneten bestehen soll, mit dem Gerichtsurteil am Donnerstag seine Legitimität verloren. "Wir sind zurück auf Start", sagte der Jurist Hossam Eissa.

Obwohl die Details der politischen Konsequenzen noch nicht klar sind, dürfte wenige Tage vor der angekündigten Machtübergabe des Militärs an eine zivile Regierung der Einfluss des Militärrates deutlich gewachsen sein. Ursprünglich hatten die Generäle versprochen, nach der Vereidigung des neuen Präsidenten Anfang Juli die Macht abzugeben. Nun kündigte Gerichtspräsident Faruk Sultan an, dass der Militärrat die Legislative an sich ziehen werde, bis ein neues Unterhaus gewählt ist. Bisher verabschiedete Gesetze bleiben gültig.

Das Urteil ist ein herber Schlag für die Muslimbrüder. Diese hatten während der Präsidentenwahl erlebt, dass sie ihre Popularität aus den Parlamentswahlen innerhalb weniger Monate verloren haben. Damals gewannen sie fast 50 Prozent. Bei Neuwahlen dürften sie deutlich schwächer abschneiden.

Gleichzeitig ist der Mubarak-Mann Schafik als Rivale für den Muslimbruder Mursi in der Stichwahl bestätigt. Ihn aber fürchten die Islamisten mehr als jeden anderen: Hinter Schafik, so die Sorge, stehe in Wahrheit der Militärrat. Zwar ist unklar, wie gut die Beziehungen zwischen dem einstigen Kriegshelden Schafik und Ägyptens derzeitigen uniformierten Machthabern wirklich ist, doch schwelt die Konfrontation zwischen Armee und Islamisten bereits seit Monaten.

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