Anschlag auf "Charlie Hebdo":Der Tag, der Frankreich verändert hat

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"In meinem Herzen kannte ich sie alle", sagt eine Frau über die Opfer der Terroranschläge. Am Sonntag bemühte sich Frankreich, der Trauer Ausdruck zu verleihen.

(Foto: Dominique Faget/AFP)

Frankreich gedenkt ein Jahr nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" der Opfer. Wie sehr sich das Land gewandelt hat, offenbart vor allem Premierminister Valls.

Andächtig geht die junge Frau über die Place de la République, in kleinen, fast ängstlichen Schritten. Ihr schmaler Rücken neigt sich ein wenig nach vorn - so als drücke die Last, die sich Amandine Gérard da mit ihrem weißen Umhang aufgeladen hat, doch arg schwer. "Je suis" ("Ich bin) prangt in großen Lettern oben auf ihrem bemalten Betttuch, und dann folgen 147 Namen: "Frederick, Franck und Charb" stehen am Anfang, drei der zwölf Opfer aus der Redaktion von Charlie Hebdo, und am Ende nennt sie "Hodda und Manuel", zwei der 130 Toten vom 13. November 2015. Amandine Gérard, diese zierliche, etwas schüchterne junge Frau, ist keinem der 147 Toten je begegnet: "Aber in meinem Herzen kannte ich sie alle", sagt sie.

Paris gedenkt. Ein Jahr ist es her, dass an einem sehr sonnigen Sonntag im Januar 2015 geschätzte vier Millionen Franzosen über die Boulevards der Nation zogen, um Gotteskriegern zu trotzen und sich zu ihrer Republik zu bekennen.

Amandine Gérard war damals nicht dabei. Die 29-Jährige, die zuletzt als Verkäuferin jobbte, machte gerade ein Praktikum in Kanada: "Hier fand ich keine Arbeit, und überhaupt hatte ich die Nase voll von Frankreich." Jetzt wollte sie unbedingt hier sein, nahe der stolzen Bronzestatue der "Marianne", zu deren Füßen seit einem Jahr stets frische Blumen liegen, Trauernotizen im Wind flattern, Kerzen brennen. Gérard kommt regelmäßig her, um mit anderen, meist fremden Landsleuten zu trauern. "Ja, die Anschläge machen mir Angst", gesteht sie und lächelt: "Aber seither verspüre ich wieder ein wenig Stolz, Französin zu sein."

Anschlag auf "Charlie Hebdo": Amandine Gérard erinnert in Paris an die 147 Toten vom 13. November 2015.

Amandine Gérard erinnert in Paris an die 147 Toten vom 13. November 2015.

(Foto: Christian Wernicke)

Es gab nicht viele Franzosen, die sich an diesem nasskalten Sonntagvormittag aufraffen wollten. 1500, vielleicht 2000 Menschen schauten hinter Absperrgittern zu, wie Präsident François Hollande und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf der Place de le République vor einer neugepflanzten Eiche eine Gedenkplakette enthüllten. Ein kleiner Staatsakt, kein großer Moment des Volkes wie vor zwölf Monaten beim "republikanischen Marsch".

Damals waren Hunderttausende Arm in Arm über den Boulevard Voltaire geschlendert. Diesmal standen dort Dutzende Mannschaftswagen der Gendarmerie. Polizisten kontrollierten Handtaschen, tasteten Passanten ab, auf der Suche nach Sprenggürteln unterm Anorak. Sogar um das Programm des halbstündigen Events hatte es Zank gegeben. Viele Linke störte, dass ausgerechnet ein Armeechor rekrutiert wurde, um die Marseillaise zu singen. Und Mitarbeiter der Satirezeitschrift Charlie Hebdo mokierten sich über den Auftritt des alten Barden Johnny Hallyday: Den habe "Charb", der am 7. Januar 2015 ermordete Chefredakteur, "seit jeher gehasst".

Eine bleierne Stimmung lag über allen Gedenkmomenten dieser Trauertage. "Dies scheint etwas Ernstes zu sein", hatte der Pariser Polizeipräfekt seinem Präsidenten am Donnerstag ins Ohr flüstern müssen, Sekunden nur nach dessen Vortrag vor Sicherheitstruppen. Schon wieder! Ein offenbar gotteskriegerischer Einzeltäter war auf die Minute genau ein Jahr nach den Attentaten auf Charlie Hebdo auf zwei Polizisten losgegangen und erschossen worden.

"Nichts kann das je erklären - niemals!"

Das prägt: Vor einem Jahr noch hatte Premierminister Manuel Valls nach den tieferen Ursachen suchen wollen, warum gescheiterte junge Muslime aus Frankreichs Banlieues zu Mördern werden. Valls hatte "die soziale Apartheid" im Land angeprangert und Reformen verlangt. Am Samstag, da Valls vor dem Supermarkt Hyper Cacher der getöteten jüdischen Geiseln gedachte, mochte der Regierungschef "keine Erklärungen mehr" hören über Biografien oder Motive der Täter, denn: "Nichts kann das je erklären - niemals!"

Eine, die diese Stimmung spürt, ist Malika Zammouri. Die kleine Frau mit dem grünen Kopftuch hat sich am Sonntag die Trikolore um die Schultern gelegt, um so Flagge zu zeigen für ihre Republik: "Ich bin Muslimin", schimpfte sie, "und deshalb empört es mich, wenn diese Typen 'Gott ist groß' rufen, während sie morden." Die Einwanderin aus Marokko nickt energisch, als plötzlich ein Iman neben ihr auftritt und davon spricht, wie sich die Angst ausbreite in den islamischen Gemeinden: "Wir alle fürchten die Extremisten von beiden Seiten - also die Terroristen, klar, aber auch die politischen Extremisten", sagt Hocine Drouiche. Der Prediger bekennt sich ausdrücklich zu Frankreichs Trennung von Kirche und Staat. Aber er bangt, dass der Laizismus mittlerweile zu einer Waffe wird, um die Muslime an den Rand der Gesellschaft zu drängen.

Am Abend hat Paris noch einmal innegehalten. Diesmal ohne Prominenz, ohne Pomp, wieder auf der Place de la République: Die Stadt ließ ihre neue Eiche der Erinnerung und die alte, bronzene Marianne in hellem Licht erstrahlen. Tausende Bürger kamen, um zu gedenken. Amandine Gérard war wieder dabei.

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