Frankreich:Der Terrorist, der kein Mörder sein will

Frankreich: Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam bei seiner Aussage am Mittwoch vor dem Pariser Sondergericht im Prozess zu den Anschlägen vom 13. November 2015.

Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam bei seiner Aussage am Mittwoch vor dem Pariser Sondergericht im Prozess zu den Anschlägen vom 13. November 2015.

(Foto: Benoit Peyrucq/dpa)

Im Pariser Bataclan-Prozess wird erstmals der Hauptangeklagte Salah Abdeslam befragt. Immerhin, er redet. Aber seine Aussagen sind eher widersprüchlich als erhellend.

Von Nadia Pantel, Paris

Was weiß Salah Abdeslam, und was hat er getan? An diesem Mittwoch sollen im Sondersaal des alten Pariser Justizpalastes die Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Abdeslam ist der Hauptangeklagte im Prozess zum 13. November 2015. Der 32-Jährige ist der einzige Überlebende des Terrorkommandos, das im Konzertsaal Bataclan, vor dem Fußballstadion Stade de France und in den Bars und Restaurants im Pariser Nordosten 130 Menschen tötete. Sein Bruder Brahim Abdeslam gehörte zu den Tätern und verübte in der Bar "Comptoire Voltaire" einen Selbstmordanschlag.

Der Prozess zum 13. November 2015 ist aus verschiedenen Gründen außergewöhnlich. Wegen der hohen Zahl der Opfer, wegen der 1800 Nebenkläger, wegen der jahrelangen, akribischen Vorbereitung der Anklage. Und auch weil in den großen Terrorprozessen der vergangenen Jahre auf der Anklagebank oft nur Handlanger oder Strippenzieher saßen. Die Täter töteten sich selbst oder wurden bei Polizeieinsätzen getötet.

Salah Abdeslam ist nun die Ausnahme. Er steht in der Glasbox der Angeklagten und beantwortet die Fragen des Richters. Wobei sich Abdeslam nicht sicher zu sein scheint, welche Rolle er in diesem Prozess spielen will. Gleich am ersten Prozesstag, im September 2021, hatte der gebürtige Brüsseler den Prozess als Bühne genutzt, um sich als "Kämpfer des Islamischen Staates" vorzustellen. Anders als sein fünf Jahre älterer Bruder Brahim reiste Salah Abdeslam jedoch nie nach Syrien. Und anders als sein Bruder löste er den Sprengsatz nicht aus, den er am 13. November 2015 an seinem Körper trug. Ob er nicht konnte oder nicht wollte - Salah Abdeslam blieb zunächst unklar. Fünf Stunden später erklärte er, dass dies eine bewusste Entscheidung von ihm war.

Für diesen Mittwoch, an dem Salah Abdeslam zum ersten Mal zur Vorgeschichte des 13. Novembers 2015 befragt wird, hat sich der Mann ein weißes Hemd und eine weiße Maske angezogen. Er beginnt seine Aussage mit einem Statement. "Ich habe niemanden getötet und niemanden verletzt", sagt Abdeslam. Und er wolle festhalten, dass dieser Prozess eine Botschaft an alle sende, "die sich umentscheiden". An "Menschen, die mit Sprengstoff in der Metro oder im Bus sitzen" und dann "umkehren". Diesen Menschen würde man sagen, dass sie "nicht mehr umkehren könnten" und so oder so "bestraft und verfolgt" würden. Offen bleibt, ob er meint, dass die Möglichkeit einer Strafe der einzige Grund sei, jemanden davon abzuhalten, ein Massaker in einem Bus anzurichten.

"Die Taten des IS sind legitim"

Ein Mörder will Abdeslam nicht sein. Und gleichzeitig will er als treuer Ergebener der Terrormiliz IS wahrgenommen werden. "Ich unterstütze den IS", sagt Abdeslam, "seine Taten sind legitim." Für seinen großen Bruder, den Selbstmordattentäter Brahim Abdeslam, hat er "großen Respekt". "Ein großer Bruder ist ein großer Bruder", sagt Abdeslam, er habe so große Ehrfurcht vor ihm gehabt, dass er sich nicht getraut habe, vor ihm zu rauchen.

Während seiner Aussage gibt Salah Abdeslam sich als überzeugter Ideologe des Islamismus. Der Anschlag sei "legitim" gewesen, da französische Soldaten in Syrien und im Irak Angriffe auf den Islamischen Staat verübt hätten. Er habe 2012 begonnen, sich für die Terrormiliz IS zu interessieren, weil ihn die Bilder von den Angriffen des syrischen Diktators Baschar al-Assad auf die syrische Zivilbevölkerung "sehr berührt" hätten. Dass der IS nun seinerseits die französische Zivilbevölkerung angriff, sei "nicht persönlich" gegen die Toten gerichtet gewesen. Der IS greife zum Terror gegen Zivilisten, weil er "einen militärischen Kampf ohne Drohnen und Kampfflugzeuge, nur mit Bordmitteln" führe.

Als im vergangenen Herbst fünf Wochen lang die Hinterbliebenen und Überlebenden des Terrorangriffs vom 13. November aussagten, hatte Salah Abdeslam von der Anklagebank aus zugehört. Er war Tag um Tag dabei, als Menschen von ihrer Todesangst erzählten, von ihrer Trauer, aus der sie keinen Ausweg mehr finden. Von ihren Freunden, Kindern, Eltern, die sie verloren haben. Dann, als eine muslimische Frau erzählte, wie ihre Schwester auf offener Straße von den Terroristen erschossen wurde, stand Salah Abdeslam auf. Man habe "nur Ungläubige" töten wollen, die vielen Muslime unter den Opfern seien "ein Fehler".

Keine Details zu den Anschlägen

Am Mittwoch gab Abdeslam mal den überzeugten Ideologen ("Gott wird sich durchsetzen, so viel ist sicher", "wir wollen die Ordnung der Scharia herstellen"), mal den ahnungslosen Mitläufer. Dass sein Bruder nach Syrien ausreiste? Will er weder davor noch danach mitbekommen haben. Zu der Vorbereitung und Durchführung des Terroranschlags des 13. Novembers 2015 konnte oder wollte Abdeslam keine erhellenden Details liefern.

In Belgien wurde Salah Abdeslam wegen Schüssen auf Polizisten bereits zu 20 Jahren Haft verurteilt. Einer seiner belgischen Anwälte sagte über Abdeslam, dieser habe "die Intelligenz eines leeren Aschenbechers". Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt Abdeslam, ein "eher durchschnittlicher Mensch" zu sein, der "sich selbst in eine totalitäre Entmenschlichung" begeben habe. Vor Gericht beschrieb Salah Abdeslam seine Kindheit als "einfach", er machte Abitur, begann eine Ausbildung zum Elektromechaniker. Er sei "spirituell" als Muslim erzogen worden, aber "von der politischen und militärischen Dimension" des Islam habe man ihm "erst später erzählt".

Am Mittwochnachmittag werden auch schriftliche Aussagen von Salah Abdeslams Ex-Freundin, seiner Schwester und seiner Mutter vorgelesen. Die Ex-Freundin schreibt, die Attentate hätten sie "entsetzt" und "zerstört", und sie habe das Gefühl, die Familie Abdeslam habe eher um ihren toten Sohn Brahim und den inhaftierten Sohn Salah getrauert, als über deren Taten zu sprechen. Die Schwester von Brahim und Salah Abdeslam schreibt, ihr Bruder Salah werde "als Mörder des Bataclan diabolisiert", obwohl er "noch nicht einmal dort gewesen" sei.

Abdeslams Mutter wendet sich an die Hinterbliebenen

Der Brief der Mutter ist als ein Dokument der Trauer geschrieben. Er wird vor dem Gerichtssaal vorgelesen, der bis auf den letzten Platz besetzt ist. In den Reihen sitzen Dutzende Hinterbliebene, einige halten sich die Hände vors Gesicht, während sie die Worte der Mutter der Täter anhören. Die Mutter richtet sich direkt an die Hinterbliebenen: "Ich bin untröstlich so wie Sie." Sie habe "einen Sohn verloren", der andere sei im Gefängnis. Ihr sei bewusst, dass "mein Sohn Salah einen Teil der Verantwortung trägt. Aber ich möchte feststellen, dass er auf niemanden geschossen hat". Salah Abdeslam reagiert auf den Brief seiner Mutter mit einem knappen Kommentar: "Wir haben alle gelitten."

Der Prozess des 13. November 2015 wird in Frankreich seit einem halben Jahr aufmerksam verfolgt. Bisher kamen in erster Linie Zeugen, Hinterbliebene und Überlebende sowie Ermittler zu Wort. Vor Gericht betonten die Opfer des Anschlags immer wieder, wie wichtig es für sie sei, ihre Aussagen öffentlich zu Protokoll geben zu können.

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