Süddeutsche Zeitung

Katholische Kirche:Wenn Buße nicht genügt

Der Papst kommt als Büßer nach Kanada. Dort wurden indigene Kinder jahrzehntelang in katholischen Internaten misshandelt. Franziskus bat um Vergebung. Aber die Indigenen verlangen noch mehr.

Von Annette Zoch

Es waren 215 Kinder. Die jüngsten waren gerade mal drei Jahre alt. In ein anonymes Massengrab geworfen, verscharrt wie Vieh, im Hinterhof des einst katholischen Internats von Kamloops in der kanadischen Provinz British Columbia. Im Mai 2021 wurden diese Kinderleichen bei Boden-Untersuchungen gefunden. Nur einen Monat später, im Juni, entdeckte man mehr als 750 anonyme Gräber auf dem Gelände des früheren katholischen Internats in Marieval in Saskatchewan.

Der Staat und die Kirche agierten in Kanada in unheilvoller Allianz, als sie im 19. und 20. Jahrhundert Zehntausende indigene Kinder ihren Familien entrissen, um sie in sogenannten "Residential Schools" zu "zivilisierten Christen" zu erziehen. Diese christliche Erziehung bedeutete für die Kinder, so erzählen es Überlebende, nicht nur den Verlust ihrer Muttersprache und ihrer kulturellen Identität, sondern auch brutale Misshandlungen bis hin zu Folter, psychischer Gewalt und sexuellem Missbrauch. Viele Kinder kehrten nie mehr zurück.

Lange wollte niemand der indigenen Bevölkerung zuhören, wenn sie von ihren verlorenen Kindern sprach. Erst auf ihren beharrlichen Druck hin kam es schließlich zu den ersten Boden-Untersuchungen. Bis heute hat man rund 130 000 Gräber im ganzen Land gefunden.

Seit Sonntag ist nun Papst Franziskus in Kanada, auf einer "Reise der Buße", wie er selber sagt. Am späten Montagabend deutscher Zeit besuchte er das Gelände einer der größten berüchtigten Residential Schools in Maskwacis. "Ich bitte demütig um Vergebung für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde", sagte er vor Überlebenden solcher Schulen. Unter den 2000 Anwesenden war Premierminister Justin Trudeau. Franziskus erinnerte an das, was ihm Überlebende berichtet hatten: Wie "eure Sprachen und Kulturen verunglimpft und unterdrückt wurden; wie Kinder körperlich und verbal, psychologisch und spirituell misshandelt wurden; wie sie von klein auf von zu Hause weggeholt wurden". Daher, so der Papst, "kniet die Kirche vor Gott nieder und bittet um Vergebung für die Sünden ihrer Kinder".

Am Flughafen in Edmonton war der Papst von Vertretern der sogenannten First Nations, der Inuit und der Métis begrüßt worden. Einige von ihnen waren in ihrer Kindheit selber noch in katholischen "Residential Schools" untergebracht.

Die Erwartungen an den Pontifex sind hoch. Bereits Ende März reisten Vertreter der First Nations, der Inuit und der Métis in den Vatikan und trafen den Papst. Damals bat Franziskus für die Taten der katholischen Kirche um Vergebung. Auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der selbst Katholik ist und das Thema zur Chefsache gemacht hat, verlangte eine Entschuldigung des Papstes. Die jetzige Reise von Franziskus nach Kanada gilt daher zumindest als ein politischer Erfolg für die liberale Regierung in Ottawa, die sich die Aussöhnung mit den Indigenen auf die Fahnen geschrieben hat.

Wichtige Akten liegen in Rom unter Verschluss

Die Bitte um Vergebung in Rom war ein erster Schritt, aber die Überlebenden wünschen sich noch mehr: eine echte Entschuldigung, auf kanadischem Boden, von Angesicht zu Angesicht. Und vor allem fordern die Betroffenen eine finanzielle Entschädigung und die strafrechtliche Verfolgung von noch lebenden Tätern. So lebe ein Priester, der in Nunavut im Norden Kanadas Inuit-Kinder missbraucht haben soll, bis heute unbehelligt und fast 90-jährig in Südfrankreich.

Bereits 2006 hatten Überlebende mit einer Sammelklage 50 kirchliche Rechtsträger in Kanada vor Gericht gebracht. Die katholische Kirche wurde damals zur Zahlung von 25 Millionen Dollar verpflichtet, nach Angaben der Juristin Mary Ellen Turpel-Lafond, Leiterin des Dialogzentrums für die Geschichte der Residential Schools an der Universität in Vancouver, befreiten sich die Kirchenvertreter aber weitgehend von dieser Verpflichtung und zahlten lediglich vier Millionen Dollar.

Auch fordern die Betroffenen, dass die Akten zu den Schulen herausgegeben werden sollen, um mögliche weitere Massengräber zu finden und die Misshandlungen aufarbeiten zu können. Viele Schulen wurden von Orden geführt, von Jesuiten, Franziskanern oder Ursulinen. Deren Akten liegen in ihren jeweiligen Zentralen in Rom. Mit besonderer Aufmerksamkeit wird die Reise des Papstes übrigens auch in den USA verfolgt: Auch dort gab es zahlreiche Residential Schools für indigene Kinder, die von christlichen Missionaren geführt wurden. In einem ersten Bericht des US-Innenministeriums vom Mai ist bereits von mindestens 500 Todesfällen an 19 Schulen die Rede.

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