Ein einsamer Papst spendet im Regen auf dem menschenleeren Petersplatz den Segen "Urbi et Orbi": Während des Corona-Lockdowns im März in Italien war dies ein wirkmächtiges Bild für die Einzigartigkeit der Krise. Nun hat Papst Franziskus einige Gedanken dieser Zeit in ein knapp 150-Seiten starkes Dokument gegossen: "Fratelli Tutti - Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft", die dritte Enzyklika seines Pontifikats.
Angesichts der Pandemie fordert der Papst darin nichts anderes als eine neue Gesellschaftsordnung: eine, die den Menschen und seine unveräußerliche Würde in den Mittelpunkt allen politischen und wirtschaftlichen Handelns stellt. Corona habe den Menschen gezeigt, "eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht", schreibt er in dem päpstlichen Grundsatzschreiben, das an diesem Sonntag veröffentlicht worden ist. Die Pandemie zwinge die Menschheit dazu, wieder an alle Menschen zu denken statt an den Nutzen einiger. Und Franziskus äußert die Hoffnung, dass die Pandemie nicht ein weiteres schwerwiegendes Ereignis der Geschichte sein wird, aus dem die Menschheit nichts lernt. "Dass wir nicht die älteren Menschen vergessen, die gestorben sind, weil es keine Beatmungsgeräte gab, teilweise als Folge der von Jahr zu Jahr abgebauten Gesundheitssysteme". Aus dem "Rette sich wer kann" werde sonst rasch ein "Alle gegen alle", und das werde schlimmer als eine Pandemie sein.
Zur Unterzeichnung der Enzyklika war Franziskus am Samstag eigens nach Assisi gereist, ans Grab des Heiligen Franz von Assisi. Bereits in seiner letzten Enzyklika, der vor fünf Jahren veröffentlichten "Laudato Si", nahm Franziskus direkten Bezug auf Texte seines Namensgebers. Damals lag der Schwerpunkt auf dem Umwelt- und Klimaschutz und der "Sorge um das gemeinsame Haus".
In seiner nun vorgelegten Enzyklika beschäftigt sich Franziskus mit dem Klima zwischen den Menschen. Zwar hat er schon länger an dem Text gearbeitet, die Corona-Pandemie hat ihm aber eine neue Dringlichkeit verliehen: "Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen", schreibt Franziskus. Und wirft ein Licht auf die besonders gefährdeten Älteren, die in dieser Krise "brutal weggeworfen", in Isolierung und "ohne angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung" gesteckt worden seien.
Entlang des biblischen Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter, der ausgerechnet als fremder Ungläubiger einem Verletzten am Straßenrand half, während die Frommen und die Landsleute vorübergingen - dekliniert der Papst dann seine Vision von der Nächstenliebe durch, die keinen Unterschied mache. Franziskus interpretiert das Gleichnis nicht nur individualethisch, sondern auch politisch: Nächstenliebe müsse Prinzip der Politik werden. Immer wieder nimmt Franziskus auch Bezug auf sein Treffen mit Großimam Ahmad Al-Tayyib im Februar 2019 in Abu Dhabi. Damals hatten beide eine interreligiöse Erklärung über die "Geschwisterlichkeit aller Menschen" unterzeichnet: Zwischen den Religionen sei ein Weg des Friedens möglich, so Franziskus. "Gottes Liebe gilt für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion."
In diesem Sinne wendet sich Franziskus auch scharf gegen die Ausgrenzung von Flüchtlingen und gegen Nationalismus: "Migranten werden als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität teilen." Franziskus kritisiert Nationalismus, Abschottung und die "soziale Aggressivität, die im Internet Raum findet". "Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne den Respekt der gesamten Welt ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden."
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, nannte die Enzyklika einen "Weck-, Mahn- und Hoffnungsruf". Die Freiburger Theologie-Professorin Ursula Nothelle-Wildfeuer sagte, damit durchbreche Franziskus "das in der Corona-Krise vielfach kritisierte Schweigen der katholischen Kirche in beeindruckender Weise". Christian Weisner von der Reformbewegung "Wir sind Kirche" wünscht sich auch einen Perspektivwechsel in der Lehre der Kirche: "Die Frage der nachhaltigen Entwicklung der Menschheit hängt in vielem ganz wesentlich von den Frauen ab. Deshalb ist die Rolle der Frau und sind unsere Kirchenreformthemen weiter relevant."