Süddeutsche Zeitung

Papier vorgelegt:Katholische Bischöfe fordern "Sozialstaats-Tüv"

Für einen radikalen Umbau des Sozialstaates hat sich die katholische Deutsche Bischofskonferenz ausgesprochen. Eigenverantwortung und Rechte von Unterprivilegierten müssten gestärkt werden.

Ihr Vorsitzender, Karl Lehmann, stellte dazu das Reformpapier "Das Soziale neu denken" vor, in dem die höhere Bewertung von Familie und Bildung als entscheidende Zukunftsaufgaben sowie ein "Sozialstaats-TÜV" als neues Überwachungsinstrument gefordert werden.

In der bisherigen Sozialstaatsentwicklung gibt es nach den Worten des Kardinals grundlegende Ungleichgewichte. Eines davon zeige sich darin, dass gut organisierte und daher einflussreiche Einzelinteressen unorganisierte Gruppen dominierten.

Das habe zu Zuständen geführt, die "in einigen Bereichen geradezu skandalös" zu nennen seien, obwohl ein Drittel des Bruttosozialproduktes für den Sozialstaat aufgewendet werde.

Lehmann wies dazu auf die Situation hin, dass Kinder immer häufiger ein Armutsrisiko darstellten. Da es ohne Kinder jedoch keine Zukunft gebe, müsse Familienpolitik als "elementare Querschnittsaufgabe aller Politik" anerkannt werden.

Auch die Lage von Langzeitarbeitslosen prangerte der Geistliche an. Deren Zahl wachse. Außerdem steige die Zahl der Menschen, "denen das Bildungssystem wirkliche Chancengleichheit vorenthält".

Bildung und Wissen komme in der Zukunft eine Schlüsselrolle im Bemühen um eine gerechtere Gesellschaft zu. Durch einen "Subsidiaritäts-Check" müsse außerdem der gesamte Sozialstaat auf Gerechtigkeitslücken und auf Reformbedarf durchforstet werden.

Gesucht werde eine "Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land". Der Staat müsse bemüht sein, die Eigenverantwortung der Bürger, und damit den "Aufbau neuer Solidaritätsformen zu stärken".

Die Bischöfe bemängelten das Fehlen einer Institution, die die Entwicklung des Sozialstaates objektiv überwache und die Dominanz organisierter Einzelinteressen in die Schranken weise.

Diese Institution, die die Bischöfe als "Sozialstaats-TÜV" bezeichneten, könne nach dem Vorbild der jährlichen Gutachten der Fünf Wirtschaftweisen auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen und als institutionalisierter "Blick fürs Ganze" wirken.

In dem so genannten "Impulstext" der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Bischofskonferenz gibt es keine konkreten Forderungen nach bestimmten politischen Entscheidungen.

Die Bischöfe wollen mit dem Papier nach eigenem Anspruch vielmehr langfristige Reformpolitik möglich machen. An der Vorstellung des Reformpapiers waren beteiligt die Bischöfe von Hildesheim und Trier, Josef Homeyer und Reinhard Marx, die als ausgewiesene Sozialexperten gelten.

Bei politischen Parteien stieß das Sozialwort der Bischöfe weitgehend auf Zustimmung. Die Unionsparteien CDU und CSU begrüßten das Papier als Hinweis, dass die Reformdiskussion nicht als "vordergründige Verteilungsdebatte" geführt werden könne.

Die FDP-Politikerin Marita Sehn sprach von einer "schonungslosen Bestandsaufnahme". Damit hätten die Bischöfe deutlich gemacht, dass sie bereit seien, "in schwierigen Zeiten schwierige Entscheidungen mitzutragen".

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisierte, die Bischofskonferenz blende die gesellschaftlichen Verteilungswirkungen in ihrem Text völlig aus. Außerdem könne sie die Forderung der Bischöfe nach einer Umkehr von der Verteilungs- zur "Beteiligungsgerechtigkeit" nicht teilen, erklärte DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer.

Der Bundespräses der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), Albin Krämer, warf den Bischöfen vor, ihrer eigenen Forderung nach einer langfristig angelegten Reformpolitik mit dem Papier nicht nachzukommen.

Es sei ein Rückschritt gegenüber dem 1997 mit der Evangelischen Kirche veröffentlichten Sozialpapier. Die Vorschläge seien "schwammig". Zudem gebe es die Tendenz, den Sozialstaat als reine Armenfürsorge neu zu denken.

Dageggen unterstützten das Kolpingwerk, der Bund Katholischer Unternehmer sowie der Bundesverband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung die Einführung eines "Sozialstaats-TÜV". Ein solches Gremium biete eine gute Möglichkeit, die Reformen der Sozialsysteme dem ritualisierten Streit zu entziehen.

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