Süddeutsche Zeitung

Johann Philipp Palm:Wie der Tod eines Buchhändlers deutsche Geschichte prägte

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Wegen einer Schrift gegen Napoleon wurde Johann Philipp Palm 1806 hingerichtet. Seitdem folgte: eine Kriegserklärung, die Vereinnahmung durch Adolf Hitler persönlich - und ein Preis für Pressefreiheit, der seinen Namen trägt.

Von Thomas Schuler

Am Nachmittag des 26. August 1806 lag der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm tot vor den nördlichen Festungsmauern Braunaus. Der aus Nürnberg verschleppte dreifache Familienvater war von acht französischen Kugeln niedergestreckt worden.

Was der vor mehr als 200 Jahren auf persönlichen Befehl Napoleons erschossene Buchhändler mit der heutigen Pressefreiheit und den ewigen Regularien der Macht zu tun hat, erfordert einen tieferen Blick in die Geschichte.

Im Sommer des Jahres 1806 stand Napoleons Stern, der seit mehr als einem Jahrzehnt auf den Schlachtfeldern unbesiegt war, in strahlender Höhe. Einige seiner Gegner gingen daher dazu über, antifranzösische Schmähschriften und Karikaturen auf dem deutschen Buchmarkt zu verbreiten, die das Ziel verfolgten, den "korsischen Emporkömmling" zumindest auf dem Feld der öffentlichen Meinung anzufechten.

Da die Grande Armée zum größten Teil in Süddeutschland einquartiert war und den Bauern nicht nur zehntausendfach die Sauen stahl, sondern sich dabei auch unter aller Sau aufführte, fielen diese Druckwerke auf fruchtbaren Boden.

Im Zuge dieser Publikationswelle erschien auch die anonyme Flugschrift: "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung", dessen Verfasser bis heute nicht bekannt ist. In dem Pamphlet wurden Frankreich und sein als "Erzfeind" bezeichneter Kaiser scharf angegriffen: "Napoleon nimmt und gibt Länder, wie immer seine Launen gestimmt sind, er handelt wie der Gott dieser Welt."

Napoleon selbst ordnete die Hinrichtung an

Durchaus wahrheitsgetreu wurde das räuberische Verhalten der französischen Armeen gegenüber der gemeinen Bevölkerung durch "schändlichste Gelderpressungen, Misshandlungen und Ausbeutung" beschrieben, die sie in "bitterste Armut" und einen würdelosen Zustand der titelgebenden "tiefen Erniedrigung" stürzten. In einer zweiten Auflage der Schrift, die allerdings nicht mehr zur Verteilung kam, wurde zu einem gemeinsamen Krieg Preußens, Österreichs und Sachsens gegen Napoleon aufgerufen.

Im Juni wurde ein Exemplar des Buches in Augsburg bei einem Pfarrer beschlagnahmt und der Inhalt nach Paris übermittelt. Als Napoleon eine Übersetzung des Textes zu lesen bekam, reagierte er umgehend, die Macht des geschriebenen Wortes war ihm durchaus bewusst: "Die Buchdruckerkunst ist ein mit gefährlichen Waffen gefülltes Zeughaus."

Von diesem Augenblick an schwebte über all den Menschen, die mit der Schrift zu tun gehabt hatten, das Damoklesschwert. Es sauste tödlich herab, als Napoleon am 5. August 1806 an seinen Generalstabschef Berthier in Deutschland schrieb, die Buchhändler von Augsburg und Nürnberg seien zu verhaften, vor ein Kriegsgericht zu stellen und innerhalb von 24 Stunden zu erschießen.

Am 14. August erschienen französische Soldaten in Palms Buchhandlung in Nürnberg und führten ihn, mit einem Strick gefesselt, zum Rathaus, wo man ihn die Nacht über in das Kellergewölbe sperrte. Der Buchhändler war an der Verteilung der Schrift lediglich beteiligt gewesen und weigerte sich standhaft, den Namen des Verfassers preiszugeben.

Am nächsten Morgen wurde er quer durch Bayern nach Braunau transportiert, wo der Buchhändler am 22. August ankam. Diese österreichische Grenzstadt war für das Scheinverfahren und die Hinrichtung nicht zufällig gewählt geworden, da die französisch besetzte Stadt nicht bayerisch war und man somit rechtliche Schwierigkeiten mit dem Verbündeten vermied.

Das am 24./25. August stattfindende Verhör und Verfahren war eine reine Farce, da durch den Befehl Napoleons das Urteil gegen Palm von vornherein fest stand. Am Vormittag des 26. August wurde der Gefangene in den Innenhof geführt und das Todesurteil verlesen, das drei Stunden später vollstreckt werden sollte.

Palm, der mit seiner Freilassung gerechnet hatte, war wie betäubt. Zurück in seinem kargen Kerker bat er um geistlichen Beistand, der bewilligt wurde.

Kurz darauf erschienen der Priester Thomas Pöschl und Spitalpfarrer Michael Gropp, der später in einem Brief an Palms Frau nach Nürnberg schrieb: "Den größten Schmerz und die häufigsten Tränen verursachte ihm die so schnelle und immerwährende Trennung von seiner innigstgeliebten Frau und Kindern, und das traurige Los, in welches selbe durch seinen Tod versetzt würden..."

Kurz vor zwei Uhr am Nachmittag hoben französische Grenadiere den gefesselten Buchhändler auf einen Karren, auf den sich auch die beiden Geistlichen setzten. Langsam zogen die Ochsen den Leiterwagen durch die mit unzähligen Schaulustigen dicht gesäumten Gassen in Richtung der Hinrichtungsstätte.

120 Dragoner zu Pferd mit gezogenen Säbeln und 150 Infanteristen mit aufgesetztem Bajonett bildeten die Eskorte, an deren Spitze die Regimentskapelle türkische Musik spielte. Da ein Aufruhr befürchtet wurde, standen auf den mächtigen Wällen der Stadt feuerbereite Kanonen.

Der Zug führte durch das alte Salzburger Tor vor die massiven Festungsmauern Braunaus. "Ich sah", erinnerte sich der Totengräber Joseph Tschaumer, der von einem Sergeanten bereits an die Hinrichtungsstätte befohlen worden war, "wie von der Stadt her ein französisches Regiment dem Richtplatz zu marschierte; in ihrer Mitte den unglücklichen Palm auf einem Vorspannwagen. Er sah blass aus, hatte verweinte Augen und war im ernsten, eifrigen Gespräche mit den zwei bei ihm auf dem Wagen sitzenden Geistlichen ..."

An der Hinrichtungsstätte angekommen, stiegen Palm und seine beiden Begleiter vom Ochsenkarren herab und schritten zu der Stelle, an der das französische Exekutionskommando ein Karree gebildet hatte. Dort gab Palm das weiße Taschentuch mit seinen letzten Tränen Gropp und bat den Pfarrer, es als Andenken seiner Frau Anna nach Nürnberg zu schicken.

Thomas Pöschl verband Palm die Augen, der daraufhin niederknien musste. "Herr Pöschl, über diesen Hergang innigst betroffen", so erinnerte sich sein Amtskollege Gropp "...konnte nicht mehr reden; er küsste, drückte unseren Verurteilten und ging weinend zurück".

Auf ein Zeichen des zu Pferd sitzenden französischen Offiziers legten drei Soldaten aus einer Entfernung von etwa acht Metern auf Palm an. "...und noch war ich nicht drei Schritte entfernt", so Gropp, "da knallte es schon".

Von der Wucht der Schüsse getroffen, stürzte Palm zu Boden. Wimmernd "krallte er vor Schmerzen die Nägel seiner Finger in die von seinem Blut befleckte Erde". Der befehlshabende Offizier befahl eine zweite Schussfolge, woraufhin erneut drei Soldaten auf den am Boden Liegenden feuerten.

Die meisten deutschen Literaten waren empört - außer Goethe

"Darauf", so der Priester Thomas Pöschl, "wurde es still. Ich wollte mich seines gewissen Todes versichern und sprang ganz nahe zu ihm hinzu, da bemerkte ich, dass er noch atmete, welches ich mit lauter Stimme anzeigte (..). Nun kamen zwei dahergelaufen, und setzen ihr Gewehr der eine zur Rechten, der andere zu Linken, hart an die Schläfe des halbtoten und vor Angst ganz gewiss betäubten Mannes, wodurch selber natürlich in einem Augenblick seinen Geist aufgeben musste, weil sein ganzer Kopf zerschmettert wurde." Erst jetzt war das dunkle Werk getan.

Die Nachricht vom tragischen Ende Palms verbreitete sich in Deutschland wie ein Lauffeuer - Napoleon hatte das Urteil 6000 Mal in den Rheinbundstaaten an öffentlichen Plätzen und Rathäusern anschlagen lassen. Über die Wirkung berichtete der bayerische Minister Montgelas in seinen Memoiren, dass "...bei der Nachricht der Hinrichtung ein Schrei der Entrüstung und des Abscheus durch das gesamte Deutschland ertönte (...). Die Feder der meisten Schriftsteller kehrte sich von nun an gegen Frankreich, und sie bemühten sich, die Gemüter wider dasselbe aufzureizen..."

Unter diesen Schriftstellern bildete der Napoleon verehrende Goethe eine Ausnahme, wenn er bei einem Tischgespräch sagte, er finde es ganz in der Regel, "einem Schreier wie Palm (...) eine Kugel vor den Kopf schießen zu lassen (...), um ein für alle Mal durch ein eklatantes Beispiel abzuschrecken".

Die übrigen Vertreter des deutschen Geisteslebens zeigten sich nahezu durchgehend entsetzt, wobei Napoleon durch den Gewaltakt tatsächlich auch viel an Sympathien bei denen verlor, die ihn bislang bewundert hatten.

Die Hinrichtung Palms fand sogar Eingang in die preußische Kriegserklärung vom 8. Oktober 1806, die durch den Gewaltakt von Braunau mit begründet wurde. Während der Befreiungskriege 1813/14 wurde "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung zu einem Kultbuch der deutschen Nationalbewegung und eine der wichtigsten Referenzschriften der nationalen Agitation", sagt der Historiker Wolfgang Burgdorf.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kam es zu vielen Neuauflagen der Schmähschrift. Das Schicksal Palms blieb in der kollektiven Erinnerung haften, wobei es oft im Sinne deutschnationalistischer Interessen uminterpretiert und missbraucht wurde.

Einen fatalen Höhepunkt fand dies, als Hitler 1925 im ersten Band seines hasserfüllten Hetzbuches "Mein Kampf" Palm gleich auf der ersten Seite als Märtyrer instrumentalisierte, "...der für sein auch im Unglück heißgeliebtes Deutschland gefallen" sei. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 hatte der Missbrauch im nationalsozialistischen Geschichtsbild Hochkonjunktur.

Hitler erwähnte Palm mehrfach in Reichstagsreden, die NSDAP organisierte eine Palm-Wanderausstellung und der Ortsgruppenleiter von Braunau wollte gar den Taufstein Hitlers am Eingang des dortigen Palm-Parks aufstellen lassen (was ihm unter Androhung von KZ-Haft untersagt wurde).

Der Umstand, dass Palm tief im christlichen Glauben verwurzelt war und zu den beiden Priestern gesagt hatte, "dass er seinen Feinden und Mördern, und wer immer auf eine Weise Schuld an seinem Tod wäre, vollkommen verzeihe", wurde tunlichst ignoriert.

Um der 200-jährigen politischen Instrumentalisierung und dem historischen Missbrauch entgegen zu wirken, gründete das Schorndorfer Apothekerehepaar Maria und Johann-Philipp Palm 2002 die Palm-Stiftung mit dem Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit. Der Preisträger wird zweijährig, jeweils an Palms Todestag bekannt gegeben.

Preisträger Edward Snowden

Im historischen Vorbild ihres zu Beginn des 19. Jahrhunderts hingerichteten Vorfahren, der sich bis zuletzt geweigert hatte, den Namen des Verfassers der Schrift preiszugeben und damit unter Einsatz seines Lebens ein höchstes Maß an Mut gezeigt hatte, würdigt der mit 20 000 Euro dotierte Preis seine Träger. Das sind Frauen, Männer und Institutionen, die, so das Vorstandsmitglied Annette Krönert "in herausragender Weise ein Beispiel für persönlichen oder institutionellen Einsatz zur ungehinderten Verwirklichung von Meinungs- und Pressefreiheit geben".

Kooperationspartner der Stiftung sind Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Schorndorf - die Geburtsstadt Palms - sowie das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. "Mit der Preisverleihung", so Annette Krönert, "will die Palm-Stiftung dazu beitragen, im Inland wie im Ausland Meinungs- und Pressefreiheit als unabdingbare Voraussetzung jeder Demokratie durchzusetzen und zu bewahren.

Beide nehmen eine überragende Stellung im freiheitlich-demokratischen Verfassungsgefüge ein und wollen ständig neu gewonnen sein. Wir setzen uns für Menschen ein die sich der Stärkung dieser Grundrechte - und damit der Stärkung der Demokratie - widmen."

Da die exzessive, globale Sammlung personenbezogener Daten durch die NSA die bürgerlichen Freiheitsrechte in einem nie gesehenen Ausmaß gefährdet, ist einer der vorgeschlagenen Preisträger für die Verleihung 2020 der Whistleblower Edward Snowden. Dessen Hinrichtung haben Mike Pompeo und Donald Trump unlängst gefordert.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2019
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