Wenn Ido Arad auf die vergangenen zwei Jahre zurückblickt, bleibt vor allem ein Gefühl: Wut. Wut auf das eigene Land Israel, auf die deutsche Politik, auf die Gesellschaft – und auf die Staatsräson. Nach dem 7. Oktober 2023 leuchteten am Brandenburger Tor die israelischen Farben, ein Zeichen deutscher Solidarität. Für den Israeli Ido Arad, der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, wirkte dieses Bild befremdlich.
Als Musiker hatte er hier eine Heimat gefunden, auf deutschen Bühnen Karriere gemacht. Dirigierte an der Deutschen Oper Berlin, an der Staatsoper Berlin und an der Dresdner Semperoper. Doch nach jenem 7. Oktober spürte Arad eine wachsende Distanz – zu Deutschland, dessen politische Reaktionen ihn zunehmend irritierten. „Immer wieder ist von Staatsräson die Rede, als Begriff, der jegliche Kritik an Israels Regierung und dessen Kriegsführung im Keim erstickt“, sagt Arad. Gleichzeitig entfernte er sich auch innerlich von seinem Herkunftsland, dessen Politik er seit Langem kritisch sieht. „Viele konnten ahnen, dass Israel diesen Moment gewaltvoll nutzen wird, um die Palästinenser zu vertreiben und den Gazastreifen zu besetzen.“

Im Sommer 2024 schuf der 44-jährige Arad zusammen mit der Journalistin und Nahostexpertin Kristin Helberg sowie dem armenisch-libanesischen Organisator Haig Ghokassian die Gesprächsreihe Zeit zu reden, um Brücken zu bauen – zwischen Menschen, Meinungen und Perspektiven. Zu lange, sagt Arad, habe man in eigenen Blasen gelebt. Ihr Ziel: Dialog, wo sonst Schweigen oder Abwehr herrschen. Kontroverse Themen wie Apartheid oder Staatsräson werden in den mehr als zweistündigen Runden nicht umgangen, sondern offen verhandelt. Für Arad ist das mehr als nur Debatte. „Es ist Teil des Gerechtigkeitskampfs der Palästinenser – des Ringens darum, gesehen, gehört und als gleichwertig anerkannt zu werden“, sagt er.
Schränkt Deutschland die Meinungsfreiheit ein?
Seit dem ersten Termin vor gut einem Jahr gab es bereits mehr als zehn solcher Diskussionen. Finanziell gefördert wird die Gesprächsreihe von vier unterschiedlichen Stiftungen. Gastgeber für die etwa 300 Gäste ist die Spore in Berlin-Neukölln – ein Kunst- und Kulturzentrum. Der Unternehmer Hans Schöpflin öffnet dort die Türen, um Debatten Raum zu geben, die anderswo auf Widerstände treffen. Die Themen der jeweiligen Panels zeigen, wo die Bruchlinien verlaufen. Zu Gast waren unter anderem der Autor Daniel Marwecki, der sich mit den deutsch-israelischen Beziehungen beschäftigt hat, Antisemitismusforscher Uffa Jensen, der palästinensische Aktivist Fuad Hamdan, die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldmann und der Chefkorrespondent des Deutschlandfunks Stephan Detjen. Antisemitismus und die Vielfalt jüdischer Stimmen in Deutschland werden ebenso thematisiert.
Nach dem 7. Oktober 2023 spitzte sich in Deutschland die Lage für die palästinasolidarische Bewegung rasch zu. Kurz nach dem Überfall der Hamas wurden laut Berliner Polizei fast die Hälfte aller angemeldeten propalästinensischen Demonstrationen verboten. Bei denen, die erlaubt wurden, kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei – und zu Debatten über deren Legitimität. An manchen Schulen untersagte man mit Unterstützung des Berliner Bildungssenats das Tragen der Kufija, des traditionellen Palästinensertuchs. Vor wenigen Wochen warb Hessens Antisemitismusbeauftragter dafür, die Kufija als „Symbol für Israel-Hass“ zu verbannen. Politiker wie Unionsfraktionschef Jens Spahn erklärten nach Demonstrationen gegen den Krieg im Sommer, es sei „inakzeptabel, dass Islamisten und ihre Helfershelfer vor dem Bundestag aufmarschiert sind, das Existenzrecht Israels infrage stellen und Judenhass vor dieses Haus tragen“.
Vor diesem Hintergrund warnte der Menschenrechtskommissar des Europarates, Michael O’Flaherty, in einem Brief an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vor schwerwiegenden Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland. Er rief die Bundesregierung auf, von Maßnahmen abzusehen, die Menschen aufgrund ihrer politischen Meinung, Religion, Nationalität oder ihres Migrationsstatus diskriminierten. Genau an diesem Punkt will Zeit zu reden ansetzen. Schließlich sei das Format laut Ido Arad als eine Reaktion auf die zunehmende Zensur palästinensischer Stimmen entstanden.
„Statt Mitgefühl oder Verständnis zu bekommen, stößt man oft auf Gleichgültigkeit“
Seit Beginn des Gaza-Krieges wächst in der palästinensischen Gemeinde das Gefühl von Misstrauen und Frustration. Auf den propalästinensischen Demonstrationen hört man, dass sich die Menschen übergangen fühlen, ihre Stimmen überhört werden – ein Prozess, der Entfremdung und gesellschaftliche Ausgrenzung verstärkt. Eine junge Frau mit palästinensischen Wurzeln, die in der Nähe von Düsseldorf lebt, beschrieb das im Sommer in der SZ so: „Statt Mitgefühl oder Verständnis zu bekommen, stößt man oft auf Gleichgültigkeit oder Unverständnis.“ Immer wieder werde sie nach Beweisen gefragt, nach Bildern von Leichen ihrer Familienangehörigen, die sie in Gaza verloren habe, genaue Zahlen. „Als müsste man den Schmerz erst beweisen, bevor er anerkannt wird.“
Im ARD-Deutschlandtrend forderte im August eine klare Mehrheit von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), den Druck auf Israel zu erhöhen. „Umfragen zeigen, dass die Mehrheit in Deutschland das israelische Vorgehen in Gaza kritisiert“, sagt Kristin Helberg. Viele wagten dennoch nicht, ein Ende des Krieges öffentlich zu fordern – auch, „weil die palästinasolidarische Bewegung von Beginn an pauschal diffamiert und kriminalisiert worden ist“, sagt sie. Radikale Stimmen gebe es, die Mehrheit setze jedoch auf Menschenrechte und ein Kriegsende.
Deutschland stecke mit seiner Politik im Nahen Osten in einer Sackgasse, sagt Ido Arad. Zeit zu reden könne ein kleiner Beitrag der Zivilgesellschaft sein, um dem zu begegnen – „einer Politik, die aus Gründen der Staatsräson Prioritäten setzt und offene Debatten dadurch erstickt“.

