Süddeutsche Zeitung

Pädophilie in Großbritannien:Von der Macht missbraucht

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Seit dem Skandal um TV-Moderator Jimmy Savile vergeht kaum ein Monat in Großbritannien, in dem nicht ein Prominenter mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs konfrontiert wird. Nun hat der Vorwurf der Vertuschung das Regierungsviertel erreicht.

Von Christian Zaschke, London

Seit Ende 2012 vergeht kaum ein Monat in Großbritannien, in dem nicht ein Prominenter mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs konfrontiert wird, die sich auf die siebziger und achtziger Jahre beziehen. Erst in der vergangenen Woche ist der 84 Jahre alte Entertainer Rolf Harris zu knapp sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er in besagter Zeit Minderjährige belästigt und vergewaltigt hat. Nun hat Premierminister David Cameron eine weitreichende Untersuchung von länger zurückliegenden Kindesmissbrauchsfällen angekündigt, in der besonders die BBC, der Nationale Gesundheitsdienst NHS und die Politik unter die Lupe genommen werden sollen.

Der überraschende Schritt des Premiers erfolgte, nachdem zuletzt Vorwürfe aufgetaucht waren, es habe in den achtziger Jahren einen Pädophilen-Ring im Regierungsviertel Westminster gegeben. Ein entsprechendes Dossier hatte der konservative Politiker Geoffrey Dickens bereits 1983 dem damaligen Innenminister Leon Brittan übergeben. In der vergangenen Woche fragte der Labour-Abgeordnete Simon Danczuk offiziell nach, was seinerzeit mit dem Dossier passiert sei. Dickens starb 1995, doch sein Sohn sagt, das Dossier hätte damals acht mächtige Kinderschänder bloßstellen sollen.

Netzwerk der Kinderschänder könnte bis nach Westminster reichen

Das Netzwerk der Kinderschänder könnte allerdings noch größer gewesen sein. Am Montagabend sagte Peter McKelvie, der lange im Kinderschutz gearbeitet hat, er glaube, dass deutlich mehr Menschen beteiligt waren, darunter frühere Abgeordnete und Staatssekretäre. "Ich würde sagen, dass wir von etwa 20 Leuten sprechen", sagte er der BBC, "und dann gibt es noch einmal deutlich mehr Leute, die Bescheid wussten und nichts getan haben." McKelvie sagte, er habe viele Jahre lang mit Opfern gesprochen. Es gehe fast ausschließlich um minderjährige Jungen, die missbraucht und vergewaltigt wurden.

McKelvie hat Anfang der neunziger Jahre mit daran gearbeitet, dass ein bekannter Kinderschänder, der eine Kinderstiftung leitete, verurteilt werden konnte. Damals habe er aus der Korrespondenz des Kinderschänders einen Überblick über das Ausmaß des Missbrauchs bekommen, sagt er. Bereits 2012 hatte McKelvie sich an einen Labour-Abgeordneten gewandt, der das Thema im Parlament zur Sprache brachte. Seitdem ermittelt die Polizei.

Bezüglich des Dossiers von 1983 verwies der ehemalige Innenminister Leon Brittan darauf, dass er die Unterlagen innerhalb seiner Behörde korrekt weitergeleitet habe, was 2013 in einer Untersuchung festgestellt worden sei. Wie erst jetzt ans Licht kam, wurde in dieser Untersuchung auch ermittelt, dass im Innenministerium 114 Akten verloren gegangen sind, in denen es möglicherweise Hinweise auf Missbrauchsfälle in Westminster gab. Die Akten beziehen sich auf die Jahre 1979 bis 1999. 527 Akten aus dieser Zeit konnten sichergestellt werden, in denen sich Hinweise auf neun mögliche Fälle von Kindesmissbrauch fanden. Diese werden von der Polizei untersucht.

Die britische Regierung steht unter Druck

Besonders Innenministerin Theresa May steht nun unter Druck, die Angelegenheit schnellstens aufzuklären. Ihr Parteifreund Tim Loughton sagte: "Eine Akte zu verlieren, ist unglücklich. 114 Akten zu verlieren, deutet entweder auf vollständiges Unvermögen oder auf ein gewisses Maß an Vertuschung hin." Auch Norman Tebbit, der in den achtziger Jahren in der Regierung von Margaret Thatcher mehrere Ministerposten innehatte, hält Vertuschung nicht für ausgeschlossen. "Damals neigten die Institutionen noch mehr als heute dazu, das System zu schützen", sagte er der BBC, "weshalb es zumindest möglich ist, dass Dinge vertuscht wurden."

Innenministerin May kündigte im Parlament eine ausführliche Ermittlung bezüglich des Dossiers aus den achtziger Jahren und der fehlenden Akten an. Zudem wiederholte sie David Camerons Ankündigung, dass es eine großangelegte Untersuchung von Kindesmissbrauch in staatlichen Institutionen geben werde. Eine Gruppe von Experten soll in öffentlichen Anhörungen das Ausmaß des Missbrauchs im Land ergründen. Cameron sagte, kein Stein werde auf dem anderen bleiben: "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir herausfinden, was passiert ist, und daraus lernen."

Das Thema Kindesmissbrauch beschäftigt Großbritannien, seit Ende 2012 ans Licht kam, dass der populäre BBC-Moderator Jimmy Savile jahrzehntelang Minderjährige belästigt und vergewaltigt hat. Er fand seine Opfer sowohl in der BBC wie auch in Krankenhäusern, für die er sich engagierte. Obwohl es immer wieder Hinweise gegeben hatte, wollte niemand etwas von Saviles Taten gewusst haben; er starb unbehelligt im Jahr 2011. Nach den posthumen Enthüllungen von 2012 fanden Hunderte Opfer die Kraft, über den Missbrauch zu sprechen. Offenbar haben seinerzeit viele Prominente ihren Status dazu genutzt, sich an Minderjährigen zu vergehen. Scotland Yard geht den vielen Hinweisen mit mehreren Teams nach. Die Ermittlungen haben bereits zu einigen Gerichtsverfahren geführt. Weitere werden folgen.

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