Pädophilie-Debatte der Grünen:Dunkle grüne Gründerzeit

Grünen-PK zum Pädophilie-Bericht

Daniel Wesener (links) und Bettina Jarasch, Landesvorsitzende der Berliner Grünen, bitten Pädophilie-Opfer um Entschuldigung.

(Foto: Jörg Carstensen/dpa)
  • Eine Kommission von Parteimitgliedern und Experten offenbart die falsche Toleranz, die in den Gründungsjahren der Grünen gegenüber dem Thema Pädophilie herrschte.
  • Die Berliner Grünen-Chefin Bettina Jarasch zeigt sich entsetzt über das jahrelange Dulden und Wegschauen.
  • Jahrelang seien "pädophile Aktivisten" bei den Berliner Grünen aktiv gewesen, entschiedenen Widerstand gegen die Ignoranz gab es nur von einzelnen.

Von Jens Schneider, Berlin

Als Fred Karst Mitglied der Berliner Grünen wird, ist er bereits mehrmals wegen sexuellen Missbrauchs von Buben angeklagt und verurteilt. In der Partei, die damals noch Alternative Liste (AL) heißt, verfolgt er ein Ziel. Der Mann, der Jungen im Alter von sieben bis zwölf Jahren missbraucht hat, will, dass seine Neigung nicht mehr bestraft werden kann. Die Politik soll die Gesetze ändern. Auch einer seiner Weggefährten ist mehrmals wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen rechtskräftig verurteilt. Beide gehören einem Pädophilen-Netzwerk an. Beide versuchen in dieser Zeit, es sind die 1980er-Jahre, die Programmatik der jungen Partei zu prägen.

Bei den Grünen weiß man um ihren Hintergrund, duldet sie aber. Wer den Männern widerspricht, wird kaum wahrgenommen, sogar als intolerant beschimpft. Die Männer, die immer wieder Kinder sexuell missbrauchen, stellen sich als Opfer der Justiz da, während sich für die wahren Opfer fast niemand interessiert. Das Wirken dieser Männer steht im Mittelpunkt eines Berichts der Berliner Grünen, über den die Vorsitzenden der Partei sagen, dass er sie mit großer Scham erfüllt.

"Wir schämen uns für das institutionelle Versagen unserer Partei", erklärt die Berliner Grünen-Chefin Bettina Jarasch. Sie sei entsetzt über das jahrelange Dulden und Wegschauen. Auch wenn es für das Versagen der Partei keine Entschuldigung geben könne, bitte sie Opfer um Entschuldigung.

Pädosexuelle Propaganda als Minderheitenposition geduldet

Jahrelang seien "pädophile Aktivisten" wie die beiden mittlerweile verstorbenen Männer bei den Berliner Grünen aktiv gewesen. Es habe in der Partei "keine Auseinandersetzung mit der pädosexuellen Propaganda" gegeben. Vielmehr sei sie als Minderheitenposition geduldet worden. Dies könnte die Missbrauchstäter sogar "ermutigt" haben, die erst Mitte der 1990er-Jahre ausgeschlossen wurden.

Der neunzig Seiten lange "Bericht über die Haltung des Landesverbandes Berlin zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder" ist das Ergebnis einer Kommission von Parteimitgliedern und Experten, unter ihnen erfahrene Betreuer von Missbrauchsopfern. Er offenbart falsche Toleranz und erschütternde Ignoranz, ein düsteres Kapitel der Gründungsjahre der Grünen, zu dem für die Bundespartei bereits 2014 der Göttinger Politologe Franz Walter einen Bericht vorgelegt hat.

Die Berliner Grünen haben eine eigene Kommission eingesetzt, weil die Entwicklung in ihrem Landesverband besonders erschreckende Züge hatte. Einer der Straftäter gründete sogar eine parteiinterne Organisation namens "AG Jung und Alt", von deren Wirken die Partei bis heute nichts Genaues weiß, aber Übles befürchten muss. Es deutet offenbar manches darauf hin, dass es rund um diese Gruppe auch zu pädophilen Handlungen kam. Aber das Geschehen in der Gruppe sei bis heute - auch nach der Arbeit der Kommission - eine Black Box, so die Grünen-Spitze.

Broschüre warb für die Legalisierung pädophiler Beziehungen

Die Partei habe damals "weder die fortwährende Lobbyarbeit pädosexueller Aktivisten unterbunden noch versucht herauszufinden, was in der Gruppe Jung und Alt eigentlich vor sich ging", heißt es im Bericht. Die Kommission hat Zeitzeugen befragt, Historiker haben Dokumente aus der Zeit ausgewertet. Aber der Bericht hat Leerstellen. Das Parteileben der grünen Gründerjahre wurde lückenhaft dokumentiert, vor allem fand die Kommission keinen Kontakt zu Opfern. Daher soll der Bericht kein Abschluss sein. Grünen-Chefin Jarasch bittet Betroffene, sich zu melden.

Der Bericht blickt zurück in eine merkwürdige Zeit. Akribisch zeichnet die Kommission nach, wie es im libertären Klima der 1980er bei den Grünen dazu kam, dass geduldet wurde, was man nie hätte dulden dürfen. Im Jahr 1980 fand sich die Forderung nach Straffreiheit für vermeintlich "einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen" sogar im Programm der AL wieder, in den Jahren danach fand sie keine Mehrheiten mehr.

In jener Gründungszeit wurde auch eine Broschüre mit dem Namen "Ein Herz für Sittenstrolche" veröffentlicht, die für die Legalisierung solcher Beziehungen warb. Immer wieder gab es neue Vorstöße in der Partei zur Änderung des Sexualstrafrechts. Die Akteure - ihre Namen werden im Bericht genannt - engagierten sich auch während ihrer Haftzeit in der Partei. Einer der bekennenden Pädosexuellen kandidierte für das Abgeordnetenhaus. Wie viele Männer es waren, ist nicht klar, noch weniger die Zahl ihrer Opfer. Kürzlich sprach ein Mitglied der Kommission von bis zu 1000 Missbrauchsopfern. Er hat die Zahl revidiert, sie sei Spekulation gewesen.

Entschiedenen Widerstand gab es nur von einzelnen

Der Bericht erinnert an die Debattenkultur der frühen Grünen, wo fast alles geduldet und Minderheiten unbedingt mit ihren Anliegen geschützt werden sollten. "Die Täter konnten sich als Opfer darstellen, für die wahren Opfer des Missbrauchs war man daher blind", heißt es im Rückblick. Die Position der Täter wurde nicht übernommen, aber eben auch nicht geächtet. Man fragt sich, was in den Köpfen mancher Gründungs-Grüner vorging, wie die Gleichgültigkeit zu erklären ist. Entschiedenen Widerstand gab es nur von Einzelnen. Vor allem die Kreuzberger Frauengruppe der Partei - der Stadtteil war ein Schwerpunkt der Pädophilen - hielt deutlich dagegen. Die Frauen mussten aber darum kämpfen, gehört zu werden.

Wolfgang Wieland, einer der Gründer der Alternativen Liste, ist zur Vorstellung des Berichts gekommen. Er spricht klar von einem "persönlichen Versagen derer, die damals dabei waren". Die heutige Parteispitze stellt Opfern "Anerkennungszahlungen" in Aussicht, im Wissen, so Bettina Jarasch, dass Geld nichts wieder gutmachen könne.

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