Ostukraine:Die dünne Linie zwischen Krieg und Frieden

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Wie durch ein Wunder blieben die Kinder unverletzt: In Stanyzja Luhanska auf der ukrainischen Seite wurde ein Kindergarten von einer Granate getroffen. (Foto: Aris Messinis/AFP)

An der Grenze zu den Separatisten-Territorien in der Ostukraine wird seit ein paar Tagen so viel geschossen wie lange nicht mehr. Das ist kein gutes Zeichen.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Ein rundes Loch in der aus Ziegeln gemauerten Wand, darunter ein Regal mit Fußbällen. Trümmer liegen zwischen Spielzeug. Ein direkter Granattreffer auf einen Kindergarten in Stanyzja Luhanska. Der Ort liegt an der Kontaktlinie, die im Donbass die ukrainische Armee von den Milizen der von Russland kontrollierten Separatistenrepubliken trennt. Die Regierung in Kiew macht diese verantwortlich für den Beschuss. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht. Drei Angestellte des Kindergartens wurden verletzt, den Kindern passierte wie durch ein Wunder nichts. So berichten es Bewohner der Stadt. Womöglich galt der Beschuss einem nahegelegenen Eisenbahndepot, vermuten sie.

Die Separatisten wiederum beschuldigen Kiew, die Attacke inszeniert zu haben. Und verweisen darauf, in Luhansk seien sieben Wohnhäuser von Granaten getroffen worden, Dutzende Mörsergranaten habe die ukrainische Armee auf sie gefeuert. Auch das lässt sich nicht verifizieren. Man habe das Feuer erwidert, heißt es. In der Nacht zum Freitag seien die Gebiete erneut mit schweren Waffen beschossen worden.

Zum Ende dieser bewegten Woche ist die Zahl der Waffenstillstandsverletzungen stark angestiegen an der mehr als 400 Kilometer langen Front, deren Verlauf seit Anfang 2015 weitgehend unverändert geblieben ist. Dokumentiert hat dies die Spezielle Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zwischen Mittwochabend und Donnerstagmorgen habe es etwa 500 Detonationen gegeben, teilte sie mit. In den Tagen zuvor war es noch ruhiger als im Vorjahr, dann plötzlich die schwersten Feuerwechsel seit Monaten.

Auch im Ort Wrubiwka wurden Wohnhäuser von mindestens acht Granaten getroffen. (Foto: Vadim Ghirda/AP)

Die Waffenruhe ist brüchig, die im Minsker Abkommen 2015 unter Vermittlung Frankreichs und Deutschlands zwischen Russland und der Ukraine vereinbart worden war. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ein Krieg hier beginnen würde, wenn es so weit kommen sollte. Zwischenfälle gibt es jeden Tag, aber in der angespannten Lage könnte eine Eskalation der Gewalt schnell außer Kontrolle geraten. US-Außenminister Tony Blinken warnt davor, dass Russland einen Zwischenfall inszenieren und als Vorwand für einen Angriff nehmen könnte.

Der Kreml hat seinerseits die Rhetorik drastisch verschärft. Präsident Wladimir Putin warf der Ukraine während der Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz vor, in den Separatistengebieten "Völkermord" zu begehen - wofür es keinerlei Belege gibt. Sein Sprecher Dmitrij Peskow sagte, die Regierung in Kiew habe ihre "provokativen Handlungen" verstärkt. Die Lage im Donbass verschärfe sich, die Situation "an den Grenzen Russlands kann sich jeden Moment entzünden". Seit Wochen behauptet Moskau, Kiew plane, die Separatistengebiete zurückzuerobern, und ziehe dafür Truppen zusammen.

In der aufgeheizten Atmosphäre soll die zivile OSZE-Mission ein unabhängiges Bild der Lage zeichnen. Eingerichtet worden war sie im März 2014 auf Bitten der Ukraine. Etwa 500 der nicht bewaffneten Beobachter sind in der Ostukraine auf Posten, zudem hat die Mission weitere 700 Mitarbeiter. Ihren Auftrag aber kann sie selten ungehindert erfüllen, wie der stellvertretende Missionsleiter Mark Etherington jüngst der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch an der Kontaktlinie erläuterte - den sie an diesem Freitag sogar in ihrer Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz erwähnte.

In Lebedynske, einem Dorf, in dem die OSZE-Mission einen Stützpunkt unterhält, berichtete er, dass die Beobachter regelmäßig behindert würden - von beiden Seiten, überwiegend aber von den Separatisten. Sie werden an Checkpoints aufgehalten, bedroht, mal mit vorgehaltener Waffe, mal verbal. Die Mission hat Kameras installiert entlang der Kontaktlinie, doch die sind unbeweglich. Drohnen sollen aus der Luft ein präzises Bild liefern.

Auf Drohnenbildern sind Kampfpanzer unter Tarnnetzen zu sehen

Gelbe Blitze sind auf den Videos zu sehen, die Etherington der Ministerin zeigt. Die Drohnenkameras filmen die Gewehrkugeln, die auf sie geschossen werden. Während eines Demonstrationsflugs mit einem kleinen Quadrocopter leuchten am Monitor die Warnanzeigen auf, das GPS-Signal zur Navigation bricht ab. Ein Störsender. "Manche davon sind kleine Geräte, mit ein paar Kilometern Reichweite", sagt Etherington. Andere sind auf Lastwagen montiert und haben leistungsstarke Sender, die auch die größeren Drohnen beeinträchtigen.

Sie liefern hochauflösende Bilder. Grüne Punkte in einem geometrischen Muster im Gras zeigen die OSZE-Beobachter der Ministerin - ein Minenfeld. Krater auf einem Acker, sie stammen von Mörsergranaten. Kampfpanzer unter Tarnnetzen, Soldaten, die Stellungen anlegen. Gerade haben mehrere Länder ihr Personal abgezogen - aus Sicherheitsgründen. Auf 120 Mitarbeiter muss die OSZE-Mission nun verzichten. Baerbock erwägt, das deutsche Personal aufzustocken. Gerade jetzt brauche man die Mission, "um gefährliche Missverständnisse zu verhindern". Denn ein Funke zu viel kann Krieg bedeuten.

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