Nord- und Ostsee:Geisterschiffe mit Kurs auf Windparks und Unterseekabel

Nord- und Ostsee: Das russische Forschungsschiff "Admiral Vladimirsky" (vorn) bei einer Marineparade im vergangenen Jahr in Sankt Petersburg. Es interessierte sich auch sehr für Infrastruktur.

Das russische Forschungsschiff "Admiral Vladimirsky" (vorn) bei einer Marineparade im vergangenen Jahr in Sankt Petersburg. Es interessierte sich auch sehr für Infrastruktur.

(Foto: Imago/Valentin Yegorshin/Imago/Itar-Tass)

Ein nordisches Journalistenteam findet heraus, dass russische Boote in Küstengebieten gezielt Infrastruktur wie Pipelines und Stromleitungen ausgeforscht haben.

Von Alex Rühle, Stockholm

Das Meer ist schwer zu überwachen. Allein auf dem Seeboden vor der norwegischen Küste liegen 9000 Kilometer Rohre, Leitungen und Kabel. Als am 26. September vergangenen Jahres die beiden Nord-Stream-Leitungen in der Ostsee durch Explosionen beschädigt wurden, richteten die Verteidigungsminister und Marinechefs Finnlands, Dänemarks, Schwedens und Norwegens noch am selben Tag Krisenstäbe ein. Seither helfen sie einander bei der koordinierten Überwachung ihrer Seegebiete in Ost- und Nordsee und im Atlantik sowie mit gemeinsamer Präsenz in ihren Gewässern.

Journalisten der vier nordischen Länder hatten anscheinend eine ganz ähnliche Idee: Schon im vergangenen Frühjahr bildeten die öffentlich-rechtlichen Sender Danmarks Radio (DR), Sveriges Television (SVT), Norsk rikskringkasting (NRK) und Yle aus Finnland ein gemeinsames Investigativteam, das seither die Aktivitäten der russischen Marine in Ost- und Nordsee recherchiert und am Mittwoch mit seinen Recherchen an die Öffentlichkeit ging. Demzufolge kartieren russische Zivilschiffe seit Jahren gezielt Windparks, Gaspipelines sowie Strom- und Netzwerkkabel. Am gestrigen Mittwoch schalteten die vier Sender die erste Episode ihrer dreiteiligen Dokumentation "The Shadow War" (Der Schattenkrieg) frei.

Fischtrawler dürfen militärisch aufgerüstet werden

Die Journalisten haben unter anderem die sogenannten AIS-Positionen von mehreren Hundert zivilen russischen Schiffen von 2013 an recherchiert und zu Bewegungskarten zusammengefügt. AIS, das automatische Identifizierungssystem, dient dazu, alle Schiffe auf See zu orten. Eigentlich sind die Schiffe verpflichtet, ihre jeweiligen AIS-Transponder permanent angeschaltet zu lassen. Die Journalisten konnten abgefangene russische Funksprüche einsehen, die darauf hinweisen, dass regelmäßig sogenannte Geisterschiffe in den nordischen Gewässern unterwegs sind, Schiffe also, die ihre AIS-Transponder ausschalten.

Dank eines bilateralen Abkommens durften bis Ausbruch des Ukraine-Kriegs norwegische wie russische Trawler in den Gewässern des jeweils anderen Landes fischen und ihren Fang auch in den dortigen Häfen anlanden. Russland hat aber im vergangenen Sommer seine Marinedoktrin geändert, die die Strategie für die Seeverteidigung des Landes festlegt. Seither kann theoretisch jedes zivile Forschungsschiff, jeder Frachter und eben auch jeder Fischtrawler militärisch ertüchtigt werden.

Mittlerweile dürfen die russischen Schiffe ihren Fang nur noch in drei Häfen anlanden. Die Dokumentation berichtet von zwei Fischfangbooten, die im November vergangenen Jahres in einem dieser drei Häfen im nordnorwegischen Kirkenes vor Anker gingen. Bei der Routinekontrolle stellte die norwegische Küstenpolizei fest, dass die Boote jeweils in abgeschlossenen Räumen über extrem leistungsstarke Funkgeräte verfügten, die nicht mit der restlichen Elektronik an Bord verbunden waren.

Ein Forschungsschiff fährt wochenlang mit ausgeschaltetem Transponder

Im November 2021 wurden vor den nordnorwegischen Vesterålen-Inseln viereinhalb Kilometer Kabel samt massiver Verankerung aus dem Meeresboden gerissen und mehrere Seemeilen weit mitgeschleppt. Das norwegische Institute of Marine Research hat in der Gegend ein 60 Kilometer langes Netzwerk verlegt, das unter anderem dazu genutzt wird, russische U-Boot-Bewegungen vor der norwegischen Küste genauer verfolgen zu können. Die verschwundenen Kabel wogen insgesamt immerhin neuneinhalb Tonnen. Im Januar 2022 wurde ein Kabel, das von Spitzbergen aufs norwegische Festland führte, durchtrennt. Die AIS-Daten belegen deutlich, dass jeweils russische Schiffe vor Ort waren, als die Kabel beschädigt wurden: Vor der Kappung des Spitzbergen-Kabels fuhr ein Trawler 130 Mal über der betreffenden Stelle auf und ab. Die seltsamen Bewegungsmuster anderer Schiffe vor der norwegischen Küste lassen sich eigentlich nur so vernünftig erklären, dass hier mit Echolot feinmaschige Bodenreliefs erstellt wurden.

Aber auch in schwedischen und dänischen Gewässern kamen die Reporter seltsamen Schiffen auf die Spur. Die russische Admiral Vladimirsky, die offiziell für Forschungsexpeditionen genutzt wird, fuhr 2022 über Wochen hin mit ausgeschaltetem AIS-Transponder durch Ost- und Nordsee. Dänische Geheimdienstmitarbeiter sagen in der Dokumentation, das Schiff habe Windparks, Gaspipelines, Stromleitungen und Internetkabel auf See kartiert. Im November fuhr das Schiff durch mindestens zwei Marineübungsgebiete der schwedischen Streitkräfte. Als sich das TV-Team dem Schiff näherte, kamen mehrere maskierte Männer in kugelsicheren Westen an Deck, einer trug eine automatische Waffe. Später fuhr die Vladimirsky sieben Windfarmen vor der britischen und der niederländischen Küste ab.

Das Investigativteam kommt zu dem Schluss, dass mindestens 50 russische Schiffe seit zehn Jahren systematisch Spionage betreiben.

Nach der Nord-Stream-Explosion nannte eine Analytikerin der Marineakademie in Oslo den russischen Fischerbootsverkehr entlang der norwegischen Küste "die Achillesferse unserer Sicherheit". Man versteht nach der Sichtung dieser Dokumentation sehr gut, was sie damit meinte.

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