Wenn es um die EU-Mitglieder an den Rändern des Kontinents ging, zitierte der CDU-Vorsitzende gern einen seiner Vorgänger: Helmut Kohls Äußerung, dass „man sich um die Kleinen kümmern soll“, wiederholte Friedrich Merz noch 2024 auf einer sicherheitspolitischen Tagung. Die paternalistische Perspektive hat sich allerdings deutlich geändert. Die „Kleinen“ werden hochgeschätzt, als gleichrangige Partner im Nato-Bündnis gegen ein aggressives Russland: „Der Schutz von Vilnius ist der Schutz von Berlin“, eine neue Ära habe begonnen, betonte Kanzler Merz am 22. Mai bei der feierlichen Aufstellung einer deutschen Brigade in Litauen.
Litauen mit seinen drei Millionen Einwohnern liegt zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Russlands Verbündetem Belarus, mit dem Litauen eine 680 Kilometer lange Grenze teilt. Auch die anderen „Kleinen“, Lettland und Estland, sind seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nun von existenzieller Bedeutung. Die „Konfliktzone Ostsee“, wie der britische, in Berlin ansässige Journalist Oliver Moody sein neues Buch überschreibt, bestimme „Die Zukunft Europas“, so der Untertitel. Fünf der insgesamt acht westlichen Ostseestaaten grenzen an Russland. Als neuer Gegenpol zum Aggressor markieren sie die Frontlinie zu Putins aggressivem Reich.
Ein „Quell neuer Ideen – und für Optimismus“
Moody, Korrespondent der Times und der Sunday Times, hat die gesamte Region bereist und in Gesprächen mit Politikern, Historikern, Bürgern und Militärs erkundet. Das in die drei Teile „Resilienz“, „Widerstand“ und „Überleben“ gegliederte Buch beschreibt die Rollen der unterschiedlichen Ostsee-Anrainer und ihre Reaktionen auf aktuelle Probleme – im Umgang mit der russischen Schattenflotte sowie mit maritimen Sabotageakten. Das so entstandene komplexe Panorama macht eine unterschätzte Region bekannt. Der Autor sieht sie als „geopolitische Avantgarde des Westens“ – mit ihren Erfahrungen, ihrem Mut und ihrem neuen Selbstbewusstsein. Nach Moodys Überzeugung könnte der Ostseeraum für Europa, das von langsamem Wachstum und Identitätskrisen geplagt sei, „ein Quell neuer Ideen sein – und für Optimismus“: Zusammengeschweißt durch Putins Krieg gegen die Ukraine, könnten die baltischen Anrainer „dem Westen beibringen, wie man kollektive Willenskraft mobilisieren und Gesellschaften im Angesicht von Gefahr und Unsicherheit zusammenhalten kann“.

Moodys besondere Achtung gilt den kulturell und sprachlich heterogenen drei Ländern, die in ihrer Geschichte „im Guten wie im Schlechten von Deutschland tiefgreifend beeinflusst“, von russischen Zaren tyrannisiert und in der Sowjetzeit annektiert und unterjocht wurden. Wie die der estnischen EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, die Moody 2024 besuchte, war fast jede Familie von Deportation nach Sibirien betroffen. Von einem „wirtschaftlich hoffnungslosen Fall“ nach der Unabhängigkeit 1991 machte Estland einen „Tigersprung“ (Moody). Es steigerte sein Bruttoinlandsprodukt um 2500 Prozent, gründete ein als vorbildlich geltendes Schul- und Kinderbetreuungssystem und errang mit Digitalisierung und hoch bewerteten Start-ups eine europäische Spitzenrolle. Alle drei baltischen Länder wetteifern zudem in der Unterstützung der Ukraine: Den Freiheitskampf der Ukrainer, fand Moody, „sehen sie als ihren eigenen an“.
„Stellt euch hinter uns oder verschwindet.“
„Das ist es, was unsere Länder und Gesellschaften mit den sowjetischen und russischen Regimen erleben mussten. Die Menschen wissen, womit wir es hier zu tun haben“, so Artis Pabriks, ehemals lettischer Verteidigungs- und bis 2022 erneut Außenminister, der mit einer Arbeit über die lettische Nationalitätenfrage promovierte: Das lettische Dilemma ist der Umgang mit den im Lande lebenden russischen Staatsbürgern. Unter den Sowjets war das Land russifiziert worden: Die Besatzer zogen Hunderttausende russische Industriearbeiter heran. 330 000 ließen sich dauerhaft nieder. 2023 konnte nur die Hälfte der bis heute Gebliebenen im Rahmen einer Lettlandisierungskampagne ausreichende lettische Sprachkenntnisse nachweisen, rund tausend verloren daraufhin ihre Aufenthaltsgenehmigung. Der von den einheimischen Russen betrauerte Abriss des sowjetischen Siegesdenkmals in der Hauptstadt Riga im Sommer 2022 sollte Symbol des Widerstands gegen den russischen Imperialismus der Gegenwart sein. „Stellt euch hinter uns oder verschwindet“, so lasse sich die lettische Einstellung zu den Russischsprachigen verkürzen, meint Moody nach Gesprächen mit Spitzenpolitikern.

Tapferes Auftreten zeigte auch Litauen, als es sich 2021 auf Anfrage von Taiwan bereit erklärte, ein diplomatisches Büro statt mit der beschwichtigenden Bezeichnung Taipeh mit dem Namen Taiwans zuzulassen. Den daraufhin von China angezettelten Handelskrieg stand Litauen durch.
Auf ihre je eigene Weise bereiten sich die Staaten auf die Zukunft vor: Finnland rüstet sich für „absolute Verteidigung“ (Moody), mehr als 80 Prozent der Finninnen und Finnen wären bereit, für die Landesverteidigung selbst zur Waffe zu greifen. Dänemark wappnet sich für den Klimawandel und den Energiekrieg. Dem „aufgehenden Stern Polen“ und dem „Kraftzentrum Deutschland“ sind ausführliche Kapitel gewidmet. Zurzeit gehe es darum, so Moody, ob Deutschland nach Stagnation „zur Stärke zurückfindet und zu einem Angelpunkt der westlichen Erneuerung werden kann“. Denn „die Region um die Ostsee wird für diesen Prozess den entscheidenden Testfall bilden“.