Süddeutsche Zeitung

Nationalismus im Osten:Der weite Weg nach Europa

Der europäische Westen sieht sich gern als aufgeklärt und postnational - im Gegensatz zum Osten. Doch wer in die Geschichte schaut, erkennt: Ost und West haben viel mehr gemeinsam, als man denkt.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Wer an ein paar Tagungen und Konferenzen teilgenommen hat, auf denen seit Jahren allerorts über die Krise der Union, die bedrohte Zukunft Europas referiert, debattiert, schwadroniert wird, könnte meinen, es stünden sich in Europa zwei Gruppen gegenüber, ja, es gäbe überhaupt nur mehr diese beiden: die dumpfen Nationalisten und die glühenden Europäer. Die einen wollen ihr Territorium gegen den Zuzug von Menschen abriegeln, deren Kultur sie als fremdvölkisch ächten, und versprechen ihren Gefolgsleuten, dem eigenen Staat die politische Souveränität, wirtschaftliche Stärke und nationale Würde zurückzuerobern, die dieser niemals hatte. Die anderen fühlen sich über derlei provinzielle Ressentiments weit hinaus und wollen, dass Europa endlich in seine postnationale Ära finden müsse.

Ich bin übrigens schon vielen Nationalisten begegnet, aber kaum einem, der sich stolz als solcher bekannt hätte. Hingegen bekam ich es oft mit "glühenden Europäern" zu tun, die sich selbstbewusst gerade so bezeichneten, obwohl sich im Einzelnen stark unterschied, wofür sie glühten und was sie an Europa eigentlich liebten. Wenn jemand begeistert den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften verficht und er diese Freiheiten gegen nationalistische Abschottung bewahren und ausbauen möchte, dann ist damit ja noch nicht gesagt, dass er auch für ein soziales Europa glühen und etwa für die Erhöhung der Mindestrenten in den sogenannten Schuldnerländern eintreten würde. Man merke, es gibt viele, die sich selbst für begeisterte Europäer halten, obwohl sie sich doch jeweils für ganz verschiedene, mitunter geradezu gegensätzliche Dinge begeistern. In der europäischen Wahrnehmung ist das bei den Nationalisten, einer Spezies, von der wir meinen, ihr natürliches Habitat liege im Osten unseres Kontinents, ganz anders. Ein Nationalist ist ein Nationalist ist ein Nationalist, und sonst nichts.

In Krisenzeiten - und wann wären keine? - kann es hilfreich sein, den Blick einmal nicht auf die möglicherweise verheerende oder grandiose Zukunft zu richten, sondern auf die Vergangenheit, deren Traditionen oft unerkannt in der Gegenwart fortwirken. Wie war es vor 100, 150 Jahren, um den Nationalismus, vor dem uns zu Recht graut, und um jenes Europa der Vielfalt bestellt, das uns heute heilig ist? Damals waren es die Staaten des Westens, die ethnisch und sprachlich homogene Territorien zu schaffen trachteten, der Nationalismus galt ihnen als zukunftsmächtige Kraft, die den überkommenen Wildwuchs kleiner und kleinster Identitäten beseitigen und dem Fortschritt breite Bahn bereiten werde. Im Osten hingegen lebten in jeder Region, jeder Kleinstadt oft mehr als ein Dutzend Nationalitäten zusammen, und einen bunten Flickenteppich bildeten auch die Religionsgemeinschaften mit ihren zahllosen Sekten, abtrünnigen Gemeinschaften, geduldeten Ketzern.

Die Sehnsucht, einmal über die Geschicke des eigenen Landes zu bestimmen, ist nicht gleich Nationalismus

Was die nationale Vielfalt betrifft, war der Osten also schon einmal so reich, wie der Westen heute gerne sein möchte. Dem aufgeklärten, sich nationalstaatlich zurüstenden Westen von 1900 galt der ethnisch durchmischte Osten jedoch als welthistorisch rückständige Provinz, gerade weil er noch nicht vom Geist des Nationalstaats erfasst worden war. Rückständig mutet vielen von uns der Osten auch heute an, und zwar just, weil manche Staaten dort nachzuholen versuchen, was der Westen schon längst hinter sich hat. Sie sind also schon wieder zu spät dran.

Dass sie das Joch der Sowjetunion abzuschütteln wussten und sich zu souveränen Staaten erklärten, fand unseren Beifall. Was dabei gerne übersehen wurde, ist die schlichte Tatsache, dass es vielen Menschen, die sich vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer von der brüderlichen Vormacht der Sowjetunion befreiten, nicht nur um Demokratie oder eine liberale Bürgerlichkeit ging. Zensur, fehlende Rechtsstaatlichkeit, das bürokratische System der Kommandowirtschaft, das alles waren zwar keineswegs Randthemen, die nur Künstler oder kritische Intellektuelle betrafen. Aber man macht weder die Ziele noch den Mut von Millionen verächtlich, wenn man sagt, dass in ihrem Aufbegehren auch nationale Motive wirksam waren.

Daran ist nichts Schlechtes. Die Sehnsucht, einmal selbst über die Geschicke des eigenen Landes zu bestimmen, war zwar national gefärbt, aber darf zunächst nicht mit dem Nationalismus von heute gleichgesetzt werden. Von der Losung "Wir sind das Volk", die von Demonstranten tapfer vor dem schwer bewaffneten Pulk aus Militär und Polizei skandiert wurde, ist es ein weiter Weg zu jenem Geschrei von heute, bei dem nur ganz bestimmte Leute das immer noch unterjochte "Volk" sein dürfen. Aber auch ein weiter Weg ist irgendwann zurückgelegt, und er hat von dem berechtigten Wunsch von Demokraten, ihre Länder aus der Vormundschaft zu befreien, zu den völkischen Zwangsvorstellungen von Nationalisten geführt.

Dieser Nationalismus ist inakzeptabel, und er muss in die Schranken gewiesen werden. Aber es ist zu billig, ihn für jedes Problem verantwortlich zu machen, an dem die Europäische Union laboriert. Selbst Nationalisten verschiedener Länder können sich voneinander so unterscheiden, wie das auch bei den glühenden Europäern der Fall ist. Es gibt sogar falsche Nationalisten, die nur vorgeben, welche zu sein, wie etwa Viktor Orbán oder die Repräsentanten der Freiheitlichen Partei Österreichs, die nachweislich bereit sind, die heilige Nation an den Bestbietenden zu verscherbeln; Orbán, der vom christlichen Europa schwärmt und sich mit jedem verbindet, wenn er in ihm nur einen autoritären Weggefährten erhält, nutzt die nationalistische Überhitzung ja vornehmlich, um aus Ungarn eine Beute seiner Korruption zu machen.

Laut einer Studie der Open Society Foundation sind 58 Prozent der Ungarn darüber besorgt, ihr Land könnte sich zur Despotie entwickeln. Gut möglich, dass der Stern manches nationalistischen Führers aus dem Osten bald niedergeht. Immerhin das hat der Osten mit dem Westen gemein: Der französische Präsident strahlte bis vor Kurzem noch als europäischer Vordenker Europas. Ist dieser Ruhm nicht gerade dabei, zu verglühen?

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Quelle:
SZ vom 15.11.2019
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